84 endlich zu jenem radikalen Schritte, der, wie gesagt, allein zur Lösung der ganzen ungarischen Krise führen konnte, zum Fallenlassen der ehemaligen Unabhängig¬ keitspartei, zum Fallenlassen der Kombina¬ tionen, welche noch mit dieser Partei, respektive mit Justh und Kossuth rechneten und zum Appell an die Siebenundsechziger¬ parteien, die unterdessen unter Stefan Tiszas aktivster Teilnahme mächtig in die politische Aktion eintraten und bald große Fortschritte in ihrer Ralliierung gemacht hatten. Am 11. Jänner betraute der Kaiser den Grafen Khuen=Hedervary mit der Bil¬ dung des Kabinetts. Damit hatte der Kaiser auch offen seinen Entschluß be¬ kundet, die Lösung der ungarischen Krise in radikaler Weise vorzunehmen und ein Kabinett zu ernennen, dessen Aufgabe es war, eine neue Parlamentsmajorität zu werben, deshalb eventuell mit der Auf¬ lösung des ungarischen Abgeordnetenhauses vorzugehen und an die ungarische Nation und deren Urteil zu appellieren. Das Pro¬ gramm der neuen Regierung sollte im Zeichen des Friedens mit der Krone und der Vermeidung eines jeden Konflikts wegen der strittigen Bank= und Militärfragen stehen; das neue Regime sollte auf streng Deakscher dualistischer Basis aufgebaut wer¬ den und sein Bestreben dahin gerichtet sein, dauernde Ruhe und Ordnung zu schaffen und das sollte auch die Parole für die kommenden Wahlen sein. Diese entschiedene Tat übte sofort im Land ihre zündende Wirkung — nun zeigte sich die nie er¬ loschene, sondern nur zurückgehaltene Kraft des Siebenundsechziger Gedankens in neuem Glanz; ein Wort des Grafen Stefan Tisza, wonach jeder anständige Mensch sich schon jetzt auf die Seite jener stellen müsse, bei denen er die Verwirklichung einer Prinzipien findet, wurde zum Appell¬ signal des 67er Lagers und sofort meldeten sich allerorten die Anhänger dieser Partei zur Unterstützung des Kabinetts Khuen¬ Hedervary. Am 17. Jänner 1910 erfolgte die endgültige Enthebung des Kabinetts Wekerle und die definitive Ernennung des Kabinetts Khuen=Hedervary —.des dritten, welches unter der Leitung dieses Politikers ernannt wurde — welchem Graf Karl Khuen=Hedervary (Präsidium, Inneres, a latere und provisorisch Kroatien) Dr. Ladislaus v. Lukacs (Finanzen), Karl v Hieronymi (Handel), Dr. Franz Sze¬ kely (Justiz und provisorisch Kultus und Unterricht; letzteres Portefeuille übernahm bald nachher Graf Johann Zichy) GM. Samuel Hazai (Landesverteidigung) und Graf Bela Serenyi (Ackerbau) ange¬ hörten. Auf den 21. März 1910 war das auflösungsreife ungarische Abgeordneten¬ haus durch kaiserliches Handschreiben zu seiner Schlußsitzung einberufen worden und nun kam es zu ebenso gemeinen als brutalen Skandalszenen gegen die Regierung, welche ich inzwischen in einer „Nationalen Ar¬ beitspartei“ — so der offizielle Name, den die ralliierten Siebenundsechzigerparteien angenommen hatten — einen starken Rück¬ halt erworben hatte. Nachdem das kaiser¬ liche Handschreiben, welches die Auflösung des Abgeordnetenhauses betraf, verlesen und von seiten mehrerer Redner die Auf¬ lösung im Ex lex=Zustande für gesetzes¬ und verfassungswidrig erklärt worden war unternahm es eine Anzahl exaltierter Mit¬ glieder der äußersten Linken (Justh=Partei), den Ministerpräsidenten nach Provozierung eines ungeheuren Tumults durch feige tät¬ liche Insulten von dieser Gesetzes= und Verfassungswidrigkeit zu überzeugen. In jenem Tumult wagten es diese Herren, mit Stühlen, großen Folianten und den auf dem Tische des Hauses liegenden Gesetz¬ büchern auf den Ministerpräsidenten loszu¬ stürmen, wobei dieser und der ihm zu Hilfe eilende Ackerbauminister Graf Bela Serenyi eine Reihe von — zum Glück ungefähr¬ lichen — Verletzungen erhielten. Nur nach einigen Unterbrechungen der Sitzung ge¬ lang es, Ruhe zu schaffen und zur Schlie¬ ßung dieser letzten denkwürdigen Sitzung des aufgelösten Abgeordnetenhauses zu kommen, die für immer ein trauriges Kapitel in der Geschichte des ungarischen Parlamentarismus bilden wird. Die Neu¬ wahlen für das neue Abgeordnetenhaus wurden für die Zeit vom 1. bis 11. Juni 1910 ausgeschrieben. Diese Wahlen, welche im allgemeinen in seltener Ruhe und fast
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