Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1911

80 Josephs überreicht hatten, in welchem — mit Rücksicht auf die in der Türkei ein¬ getretene innerpolitische Umwälzung, wie eine solche die Wiedereinsetzung der Ver¬ fassung bedeutete — eine Darlegung der Entwicklung der Orientfrage enthalten war, erschienen am 7. Oktober 1908 in der „Wiener Zeitung“ drei kaiserliche Hand¬ schreiben, welche an den damaligen öster¬ reichischen Ministerpräsidenten Freiherrn v. Beck, an den gemeinsamen Minister des Außern Freiherrn v. Aehrenthal und an den gemeinsamen Finanzminister Baron Burian gerichtet waren. In dem Hand¬ schreiben an Freiherrn v. Beck erklärte der Kaiser, daß er sich bestimmt gefunden habe, die Rechte seiner Souveränität auf Bosnien und die Hercegowina zu erstrecken und die für sein Haus geltende Erbfolge¬ ordnung auch für diese Länder in Wirk¬ samkeit zu setzen, sowie ihnen gleichzeitig verfassungsmäßige Einrichtungen zu ge¬ währen. Das Handschreiben an Burian aber enthielt nähere Bestimmungen über die Bosnien und der Herzegowina zu ge¬ währenden verfassungsmäßigen Einrichtun¬ gen, über die Zusammensetzung und den Wirkungskreis des bosnisch=herzegowini¬ schen Landtages. Nachdem dann die Türkei die Annexion Bosniens und der Herzego¬ wina ausdrücklich anerkannt, Montenegro und Serbien ihren Widerstand gegen die¬ selbe aufgegeben und endlich auch die Ber¬ liner Traktatmächte mit den in der Zeit vom 9. bis 20. April 1909 im Wiener Ministerium des Außern übergebenen Noten die Annexion respektive die Auf¬ hebung des die Okkupation regelnden § 25 des Berliner Vertrages ausdrücklich an¬ erkannt hatten und damit die friedliche Lösung der Annexionsfrage gegeben war, ging man an die Realisierung der in den oben erwähnten Handschreiben an die Freiherrn v. Beck und Burian ausgespro¬ chenen Absicht, den annektierten Ländern eine verfassungsmäßige Einrichtung zu geben respektipe an die Erfüllung der dies¬ falls dem bosnisch=herzegowinischen Volke in einer ebenfalls am 7. Oktober 1908 in der „Wiener Zeitung“ erschienenen, die An¬ gliederung Bosniens und der Herzegowina undgebenden Proklamation gemachten Zu¬ sage. Die Anderung in den politischen Ver¬ hältnissen in Ungarn — wovon später ein¬ gehender die Rede sein wird — erleichterten und beschleunigten die Erfüllung dieser Zu¬ sage. Bereits am 20. Jänner 1910 wurde die nahe Publikation der diesfälligen Gesetze angekündigt. Diese Gesetze umfaßten: a) das Landesstatut, b) die Wahlordnung für den Landtag, c) die Geschäftsordnung für den Landtag, d) ein Vereins= und Versamm¬ lungsgesetz, e) ein Gesetz über die Bildung und die Geschäfte der Bezirksvertretungen. Am 20. Februar wurden dann auch im fest¬ lich geschmückten Prunksaale des Palais der Landesregierung in Sarajevo vor den Spitzen der Zivil= und Militärbehörden, der Geistlichkeit, der Stadtvertretung, den Repräsentanten der Korporationen von Sarajevo und Notablen aller Konfessionen die vom Kaiser verliehene Verfassung für Bosnien und die Herzegowina in feierlicher Weise proklamiert. Gleichzeitig wurden die Verfassungsgesetze auch in Mostar und weiters im ganzen Lande in feierlicher Weise proklamiert Am 2. April publizierte dann das Amts¬ blatt der annektierten Länder die Ter¬ mine zur Vornahme der Landtagswahlen; danach sollten die Wahlen aus allen drei Wahlkurien (1. Kurie für Großgrundbesitz, Höchstbesteuerte, Intelligenz; 2. städtische Kurie; 3. Landgemeindenkurie) am 18., 23., 25. und 28. Mai 1910 stattfinden. Nach vollzogenen Wahlen wurde der bos¬ nisch=herzegowinische Landtag mit kaiser¬ licher Entschließung vom 31. Mai 1910 auf den 15. Juni 1910 in die Landes¬ hauptstadt Sarajevo zu seiner allerersten Session einberufen. Zum Präsidenten des Landtages wurde vom Kaiser Ali Beg Firdus (Muselman), zu Vizepräsidenten aber Vojislaw Sola (Serbe) und Doktor Nikola Mandic (Kroate) ernannt. Am 15. Juni wurde dann der neugewählte bosnisch=herzegowinische Landtag vom Landeschef in feierlicher Weise in dem großen, für die Landtagssitzungen einge¬ richteten Prunksaale des Rathauses zu Sara¬ jevo eröffnet. Den Vorsitz führte, statt des erkrankten Präsidenten, Vizepräsident Sola.

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