Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1911

60 konnten, die lauernden Geier auf ihre Beute aufmerksam zu machen. Die Absicht der auf dem Hügel ver¬ sammelten Männer war leicht zu er¬ raten aus der ungeheuren, mit Re¬ flektor versehenen Laterne, die schon bereit stand, um an der Spitze des Mastbaumes auf der Anhöhe aufge¬ hangen zu werden zu dem Zweck, das Schiff auf ein verstecktes Riff zu locken, wo es unfehlbar seinen Untergang fin¬ den mußte. Die wilde Gruppe schien auf jemand zu warten, und die gerunzelten Stir¬ nen und häufigen Flüche zeigten, daß hier keineswegs geduldig Wartende seien. Endlich näherte sich von der Seite, nach der die Männer blickten, eine schlanke Gestalt, ein ungewöhnlich schöner Knabe von fünfzehn oder sech¬ zehn Jahren, Klaas einziges Kind, das er mit aller Glut seiner leidenschaft¬ lichen Natur liebte. Alle sanfteren Ge¬ fühle, deren er fähig war, trug er dem Knaben entgegen und offenbarte sie zuweilen in jener Art wilder Zärtlich¬ keit, wie sie der Tiger gegen seine Brut zeigt. Und doch war diese Liebe nicht imstande gewesen, des Strandräubers Natur zu sänftigen; er blieb, was er immer gewesen, der verwegenste und grausamste unter seinen verwilderten Gefährten. „Nun, mein junger Herr, war es Ihnen endlich gefällig, zu kommen? rief Klaas ihm zu nach einem derben Fluch. „Wir müssen Ihnen wahrlich sehr dankbar sein, daß Sie uns hier eine halbe Stunde warten ließen. Wo waren Sie denn, mein Herr?“ „Ich kam, so schnell ich konnte, Vater“, antwortete der Jüngling. „Als Johann zuerst mit deiner Botschaft kam, war ich nicht zu Hause. „Wo warst du? „Ich war bei Herrn Rinteln. Ver¬ gangenen Sonntag hatte ich ihm ver¬ sprochen, zu kommen.“ „Hole der Teufel Herrn Rinteln und sein ganzes Gelichter und seine Sonn¬ tagsschule dazu!“ fluchte Klaas. „Er hat dich zu einem jämmerlichen, wei¬ nerlichen, pfalmensingenden Milch¬ suppenjüngling gemacht. Ehe du in die Schule gingst, hattest du noch Geist und Kurage in dir. Aber jetzt hast du nicht Herz genug, eine Katze zu ersäufen. Du solltest Weiberkleider tragen! Ich weiß nicht, wie ich solch ein Esel sein konnte, dich das erstemal hingehen zu lassen! Bis jetzt bin ich immer einfältig genug gewesen, mich nach deinen Wün¬ schen zu richten, aber jetzt sollst du tun, was ich will! Es ist hohe Zeit, daß du anfängst, dir deinen Lebens¬ unterhalt zu verdienen, und noch diese Nacht sollst du anfangen, noch diese Nacht, und gleich auf der Stelle! „Vater, du weißt, wie oft ich dich gebeten habe, daß ich gehen könne und mir etwas verdienen, du wolltest es aber nie zugeben. Wenn es hier etwas für mich zu tun gibt, so werde ich mit tausend Freuden an die Arbeit gehen! „Gut, ich nehme dich beim Wort. Ich will dir etwas zu tun geben, etwas ganz Leichtes, das in drei Minuten ge¬ tan ist. Es gilt nur, die Laterne auf¬ zuhängen.“ Walter stand erstarrt. Er konnte nicht glauben, daß er recht gehört. Nie zuvor hatte sein Vater ihn aufgefor¬ dert, sich an seinen gesetzwidrigen Handlungen zu beteiligen, und nie¬ mals wäre es ihm eingefallen, daß solche Forderungen an ihn getan wer¬ den könnten. Sein Vater, obgleich roh und leidenschaftlich im höchsten Grade, hatte ihn stets mit Freundlichkeit be¬ handelt, Walter fühlte, daß er von ihm geliebt sei, und konnte die Möglichkeit nicht begreifen, daß er seinen Sohn zum Bösewicht machen wollte. In Wahrheit aber hatte Klaas bis jetzt nur, den Widerstand des Knaben scheuend, seine Forderungen von einer Zeit zur anderen hinausgeschoben, und war heute erst infolge der Spöttereien seiner Genossen zu einem festen Ent¬ schlusse gekommen. Denn obgleich er, durch Verstand und frühere Erziehung ihnen überlegen, sie herzlich verachtete, fürchtete er doch, in ihren Augen sich lächerlich zu machen.

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