Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1911

Zum erstenmal kam ihm der Ge¬ danke, daß die Gefangene, die man von allem Verkehr mit der Außenwelt abgeschlossen wähnte, von den gegen¬ überliegenden Häusern aus Zeichen und Mitteilungen erhalten könne. Er ging so rasch als möglich ge¬ räuschlos den Korridor entlang, rief einen Wärter und ließ sich von diesem die leerstehende Nachbarzelle aufschlie¬ ßen. Dann trat er dort hinein und sah, in einer dunklen Ecke stehend. zu den gegenüberliegenden Häusern empor. Aber er konnte nichts entdecken. Es standen wohl mehrere Fenster offen. Jedoch befand sich keine verdächtige Person an ihnen. Ein paar nähende Frauen und einige Kinder, die auf sonst die Straße hinunterblickten niemand. Er schlich aus der Zelle heraus und sah durch den Schieber zu der Gefan¬ genen hinein. Sie saß schon wieder ruhig auf ihrem Stuhl und hatte den Kopf in die Hand gestützt. Die geheime Zwiesprache, die sie ge¬ führt hatte, mußte nur kurze Zeit ge¬ dauert haben und dann abgebrochen worden sein. Man war jedenfalls so vorsichtig gewesen, sie nicht lange aus¬ zudehnen, um nicht irgend jemandem damit aufzufallen. Persönlich und durch ein paar ge¬ heime Polizisten kontrollierte Wurm noch am selben Nachmittag die Ein¬ wohnerschaft aller Häuser, die man von der Zelle der Gefangenen aus sehen konnte. Meist handelte es sich um kleine Leute, die schon längere Zeit da wohnten. Nur eine Beamtenwitwe im dritten Stock des Hauses, das ge¬ rade der betreffenden Zelle gegenüber lag, hatte erst vor wenigen Tagen einen neuen Aftermieter angemeldet, einen jungen Ingenieur namens Ger¬ man Schmidt, der aus Norddeutschland gekommen sein sollte. Wurm hatte zwar nicht viel Hoff¬ nung, daß unter diesem unverfäng¬ lichen Namen derjenige verborgen sein 49 könnte, den er suchte. Er ließ sich aber doch die Mühe nicht verdrießen, nachts ein paar Stunden lang in der Nähe des Hauses in einer Toreinfahrt ver¬ borgen zu lauschen, bis der Mieter in seine Wohnung zurückkehrte. Er hatte nämlich erkundschaftet, daß der Inge¬ nieur jeden Abend ausgehe und erst ziemlich spät heimkomme. Es war schon nach Mitternacht, als sich eine Person dem fraglichen Hause näherte, dort den Schlüssel ansteckte und eintrat. Wurm hatte den Unbe¬ kannten nur kurze Zeit beobachten kön¬ nen; auch war die Beleuchtung in dieser Straße eine ziemlich schwache. Aber er meinte doch, eine gewisse Ahn¬ lichkeit mit jener rätselhaften Person entdeckt zu haben, die in der Nachbar¬ stadt mit der Gefangenen verkehrt und dann auch aus der Schweiz an sie ge¬ schrieben hatte. Er legte sich daher am nächsten Mor¬ gen neuerdings auf die Lauer, und es gelang ihm, gegen 10 Uhr den Mann wieder fortgehen zu sehen. Jetzt glaubte er, mit einer jeden Zweifel ausschlie¬ ßenden Bestimmtheit die Identität des angeblichen Ingenieurs mit jenem Unbekannten herauszufinden. Aller¬ dings trug der unter dem Namen Schmidt Gemeldete einen Vollbart, während der andere nur ein Schnurr¬ bärtchen gehabt hatte; aber der Bart konnte ja auch falsch sein. Wurm folgte in vorsichtiger Weise dem Beobachteten und begab sich, als dieser in ein be¬ kanntes Restaurant eintrat, sofort zur Polizei, während er in der Nähe des Restaurants einen Geheimpolizisten zur weiteren Beobachtung des Frem¬ den postiert hatte. IV. Im Polizeigebäude erwartete ihn eine neue Überraschung. Man hatte vorsorglich die aus der Schweiz erhaltene Photographie auch dem Schaffner, der durch seine Fahr¬ lässigkeit den Unglücksfall verschuldet haben sollte, und einigen Mitreisenden 4

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