Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1911

geblich nur durch Fahrlässigkeit des Schaffners aus der Tür gestürzt war, vielleicht überhaupt nicht der Gatte der Gefangenen, sondern irgend ein ver¬ möglicher junger Mann gewesen sei, den sie an sich gelockt, zusammen mit ihrem geheimen Bundesgenossen be¬ raubt und dann beseitigt hatte, um noch seinen Tod zur Erlangung einer hohen Entschädigung zu benutzen. Nur Wurm äußerte seine Ansicht über den Fall immer noch nicht in be¬ stimmter Weise, sondern ging schweig¬ am und vor sich hinbrütend herum als ob er sich mit besonderen Gedanken trüge. Die kurze Mitteilung selbst, die man aufgefangen hatte, war an die Nach¬ barstadt postlagernd unter einer Chiffre¬ adresse gerichtet und enthielt lediglich die Worte: „Hilf! Verzweiflung! Sie agen Mord!“ Eine Spähe auf der betreffenden Poststation blieb vergebens. Es meldete sich dort niemand, der Mitteilungen unter den angegebenen Chiffren hätte abholen wollen. Entweder war der Komplize der Verhafteten gewarnt worden, oder er war selbst zu vorsichtig, um sich in die Falle zu begeben. Die Kammerzofe der angeblichen Frau von Woidianu, welche man streng ins Ge¬ bet nahm, behauptete, um nichts zu wissen, und man mußte das dem Mäd¬ chen, das erst vor kurzem engagiert worden war und aus der Gegend der Residenz stammte, wohl oder übel auch glauben; denn die Verhaftete durfte für schlau genug gehalten werden, daß sie ihrer Zofe nichts von ihren Geheim¬ nissen anvertraute, wenn sie sich auch von deren Anhänglichkeit vielleicht hatte erwarten dürfen, daß sie ihr das nun aufgefangene Briefchen besorge. Die Tagespresse beschäftigte sich wieder lebhaft mit dem sensationellen Fall, und man hörte fast täglich von neuen Entdeckungen, welche dazu ge¬ eignet waren, die schöne Ausländerin immer mehr des schändlichsten Mordes zu überführen, ohne daß die Behörde 45 selbst sich in der Lage befunden hätte, die Richtigkeit solcher aus der erregten Phantasie entsprungenen Gerüchte auf Grund ihrer Akten bestätigen zu können. Die Sache schritt im Gegenteil sehr langsam vorwärts, weil man den Komplizen der Festgenommenen nicht and und auch sonstige Spuren über ihr Tun und Kommen nicht entdecken konnte. Sie behauptete lediglich, mit ihrem Mann auf der Hochzeitsreise verschiedene fashionable Orte des Sü¬ dens berührt zu haben, Aufstellungen, die sich nicht sicher nachprüfen ließen. In der Öffentlichkeit hielt man in¬ dessen die Sache schon so sehr zu ihren ungunsten aufgeklärt und festgestellt daß man bereits davon reden hörte, die cause célebre solle bei der nächsten Schwurgerichtssession zur Aburteilung gelangen und ein förmlicher Ansturm von Bewerbern um Billetts zu der be¬ treffenden Verhandlung fand statt, ehe noch irgend jemand mit Sicherheit an¬ geben konnte, ob es jemals zu einer solchen Verhandlung käme. Da trat plötzlich ein Ereignis ein, wie man es sich selbst in dieser an Überraschungen reichen Sache nicht hätte träumen lassen. Aus einer größeren Stadt der fran¬ zösischen Schweiz gelangte nämlich ein eingeschriebener Brief an die Polizei¬ behörde, der mit „Bela von Woidiann unterzeichnet war und die erstaunliche Nachricht enthielt, der Verfasser dieses Schreibens, welcher zu seiner Verwun¬ derung vernommen habe, daß sich seine Frau wegen angeblichen Mordes an ihm in Untersuchung befinde, verlange sofort und ungesäumt ihre Freilassung. Es sei allerdings richtig, daß er durch einen verhängnisvollen Zufall vor einigen Wochen bei einer Eisenbahn¬ fahrt über eine Brücke bei der Haupt¬ stadt in den Strom gestürzt sei. Aber er ei wie durch ein Wunder in der Nähe eines kleinen Dörfchens an das Ufer geschleudert worden, habe dort bei guten Leuten Aufnahme und Pflege gefunden und habe sich nun auf An¬

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