Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1911

44 wohl darauf ausgehe, ihren wirklichen Namen und Stand zu verschleiern. Man führte ihr endlich vor, daß sie mit einem Unbekannten insgeheim in einer anderen Stadt konspiriert habe. All das zusammen müsse doch den Ver¬ dacht erwecken, daß der Unglücksfall ihres Mannes nicht ganz außer ihrem Verschulden liege! Sie hörte diese Vorstellungen mit größter Ungeduld an und unterbrach sie heftig durch Zwischenrufe. Sie lachte höhnisch und weinte konvulsivisch; kurzum, sie gebärdete sich wie eine Ra¬ sende und zeigte gegenüber ihrer frü¬ heren vornehmen Ruhe ein gänzlich verändertes Wesen. „Nun,“ meinte der Richter endlich, „wenn Sie wirklich unschuldig sind, wenn der gegen Sie erhobene schwere Verdacht ein nicht begründeter ist, so ist es doch in Ihre eigene Hand ge geben, ihn zu zerstreuen, wenigstens ganz wesentlich zur Aufklärung der Sache beizutragen und eines der Hauptbelastungsmomente zu beseiti¬ gen, indem Sie denjenigen Mann be¬ zeichnen, mit dem Sie in den letzten Wochen insgeheim zusammenkamen. „Nie!“ schrie sie mit außerordent¬ licher Heftigkeit, beherrschte sich aber rasch und sagte: „Ich kenne ihn nicht!“ „O!“ meinte der Richter mit un¬ gläubigem Lächeln und machte eine abwehrende Bewegung. Sie schien das Ungeschickte ihrer Verteidigung sofort einzusehen und fügte daher rasch und stolz hinzu: „Das heißt, ich nenne ihn nicht! Er hat mit dieser Sache nichts zu tun! Der Beamte zuckte mit den Achseln. „Um so eher würde er sich vernehmen assen können!“ entgegnete er. „Nein, nein,“ erwiderte sie aufge¬ regt, „ich würde mich zu Tod schämen! Er ist ein Kavalier, er ist ein Freund von mir — mich, eine Dame aus der besten Gesellschaft, in dieser unwürdi¬ gen Lage zu sehen!" „Wenn er ein Kavalier ist, würde er alles daran wenden, Sie aus dieser Lage zu befreien!“ antwortete der Richter. Aber sie schüttelte heftig den Kopf und ließ sich lieber wieder in die Haft abführen, als daß sie Angaben über den Unbekannten machte. Ein Zufall kam der Behörde einiger¬ maßen zu Hilfe. Die Aufwärterin, welche im Gefäng¬ nis den weiblichen Inhaftierten zuge¬ teilt war, brachte ein paar Tage später einen Zettel aus schlechtem, grauem Papier zu Polizeihänden. Die Fremde hatte ihr ihn zugesteckt und ihr eine hohe Belohnung versprochen, wenn sie ihn befördere. Die wenigen Worte, welche auf dem Zettel standen, waren an die Kammer¬ zofe der Gefangenen gerichtet und ent hielten lediglich die Bitte, ein zweites zusammengefaltetes Briefchen, das bei¬ lag, an seine Adresse zu befördern. Als man dieses Briefchen öffnete, fand man darin nur wenige rumänische Worte niedergeschrieben. Man hielt die Sprache, in der die Mitteilung abge¬ faßt war, wenigstens bei der Polizei¬ behörde zunächst für rumänisch. Als man aber das Briefchen dem autorisierten Dol¬ metsch vorlegte, stellte sich heraus, daß sich die Schreiberin zu der geheimen Nachricht eines polnischen Jargons be¬ dient hatte, wie er nach der durch den landeskundigen Sachverständigen dazu gegebenen Aufklärung in den unteren Schichten gewisser Gegenden üblich war. Diese Entdeckung eröffnete einen überraschenden Ausblick. Man konnte es danach kaum mehr für zweifelhaft erachten, daß man es in der Verhafte¬ ten, welche meisterhaft die aus vorneh¬ men Kreisen stammende Dame zu spielen verstand, mit einer geriebenen Hochstaplerin zu tun hatte, die mit einem Komplizen in Verbindung war, der gleich ihr den zu ihrer Mitteilung gewählten Dialekt kannte, also ent¬ weder mit ihr oder nach ihr aus dem Auslande gekommen war. Man begann nun daran zu glauben, daß die verschwundene Person, die an¬

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