Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1911

40 ich gemacht, als ich plötzlich meine, müßte erstarren vor Staunen und 7 Verwunderung „Na und?“ drängte der Offizial „Sie haben manchmal eine Art zu er¬ zählen, die einem auf die Nerven geht! „Na und!“ wiederholte der Polizei¬ beamte. „Da kommt plötzlich unsere süße kleine trauernde Witwe mit einem jungen, sehr elegant aussehenden Herrn in bester Unterhaltung und in vergnügtester Stimmung daher spa¬ ziert! Sie kannte mich offenbar nicht mehr. Denn sie lachte und plauderte auch an mir vorbei, wie wenn sie nicht vor ein paar Wochen ihren innigst ge¬ liebten Mann verloren hätte, sondern, wie wenn sie sich eben jetzt erst auf der Hochzeitsreise befände! „Nicht zum glauben!“ rief der Offi¬ zial und sah seinen Freund verblufft an. „Nicht zum glauben! Sie werden sich geirrt haben! „Wenn ich einen Menschen einmal eine Stunde lang gesehen habe, irre ich mich nicht mehr!“ entgegnete Wurm bestimmt und verweisend. „Mein Phy¬ siognomiengedächtnis hat mich noch nie getäuscht! Und dann ist es bei ihr ja nicht die Physiognomie allein, die sich einem einprägt! Die ganze Erschei¬ nung, der ganze duftige Liebreiz, dieses Bild von edelster Frauenwürde, wie Sie damals so schön und poetisch gesagt haben, als sie mit dem Unglücks¬ zug ankam „Nun hören Sie aber auf,“ polterte der Offizial, „sonst werde ich grob mit Ihnen, wenn Sie glauben, mich an¬ ulken zu dürfen in Ihrem Übermut, weil Sie nach langem vergeblichen Be¬ mühen wieder mal eine Kleinigkeit herausgeschnüffelt haben! „Eine Kleinigkeit!“ sagte der Kom¬ missär, jetzt ernster. „Mein Lieber, da täuschen Sie sich, wenn Sie das für eine Kleinigkeit halten! Die Sache gibt zu denken! Lorenz schüttelte mehrmals und aufs höchste mißbilligend den Kopf. „Es ist doch rein zum Tollwerden mit euch Kriminalisten“, sagte er. „Mit jedem Atemzug schöpft ihr zugleich Verdacht, und keinen Menschen könnt ihr sehen, ohne dabei darüber nachzudenken, was er wohl schon für eine Strafliste hätte oder wie man ihm am besten eine bei¬ zubringen vermöchte! Was ist denn da¬ hinter, wenn die Armste mit einem jungen Manne geht? Soll sie gar keine Bekannten haben und finden bei so viel Liebreiz? Und wenn sie plaudert und lacht? Soll sie von nun an ihr Leben lang täglich unter behördlicher Kontrolle ihre gezählten eintausend Witwentränen weinen? Soll sie sich nicht auch einmal wieder des Lebens freuen, soll sie nicht auch wieder auf¬ atmen dürfen von dem Druck und der Last? „Ja, ja, ja!“ entgegnete der Kom¬ missär bedächtig, wie das so seine Art war. „Alles, was recht ist! Aufatmen und Lebensfreude — wie Sie wün¬ schen! Aber dann nicht hier diese Heu¬ chelei, hier dieses Zerfließen in Jam mer und Unglück! Ich habe sie erst vorgestern bei meinem Chef gesehen, wo sie wegen ihrer Papiere war — ich weiß nicht, was es da gegeben hat! Ja, da hätten Sie diesen Schmerz in allen Gesichtszügen, diese leise klagende Stimme, diesen wehmütigen Augen¬ aufschlag beobachten sollen! Eine Heuch¬ lerin ist sie—eine Schwindlerin wenn nicht mehr! Der Offizial ließ die Hand schwer auf den Tisch fallen. „Und Sie sind ein bodenloser Stre¬ ber“ sagte er, „der die Menschen un¬ glücklich macht, auf harmlose Leute Verbrechen auf Verbrechen ladet, bis sie zusammenstürzen, bloß um sich selbst ein Schmunzeln seines Chefs, einen Stern in seiner Qualifikation und eine lobende Erwähnung in den Tages¬ zeitungen herauszubeißen!“ Wurm lachte belustigt. „Sie wissen recht gut,“ sagte er dann, „daß ich mir aus dergleichen nicht das Geringste mache! Aber dieser

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