Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1911

38 entzückende und anheimelnde Art, zu sprechen, zu sehen, sich zu bewegen diese Grazie in allem, was sie tat, und dabei der Hauch tiefer Schwermut, der über ihr ganzes Wesen gebreitet war der erfahrene Anwalt, welcher doch wahrhaftig schon viele Menschen und Dinge gesehen hatte, bekannte offen, daß noch nie eine Persönlichkeit auf ihn so mächtigen Eindruck geübt, ihn so bezaubert habe wie diese junge Witwe. Natürlich hatte er sich mit einem wahren Feuereifer um sie angenom¬ men, und er verriet so viel, daß es ihm gelungen war, sie zu einem Schritt zu bestimmen, den er unbedingt für ge¬ boten hielt. Sie hatte ihm — wenn auch erst nach schwerem Kampfe mit ich selbst— auf seine überzeugenden klaren Gegenvorstellungen hin Voll¬ macht erteilt, ihre Schadenersatz¬ ansprüche gegen den Fiskus wegen des Unglücksfalles geltend zu machen. Er hatte ihr dargelegt, daß es sich hier um eine Sache handle, bei der nicht das Herz sprechen, bei der einzig und allein die ruhig abwägende Vernunft das Wort haben dürfte. War sie es nicht ihrem armen Gatten schuldig, seinen Tod nicht ganz ungesühnt zu lassen— war sie es nicht sich selbst schuldig, jene Hilfe und Führung durch das ganze Leben, die sie von ihm er¬ warten durfte, wenigstens etwas, wenn auch in einem ganz ungenügenden Maße, dadurch auszugleichen, daß sie ihre Renten erhöhte und so, nachdem nun schon einmal heutzutage Geld alles gewähren kann, was der Mensch bedarf — Lebensfreude, Gesundheit, Sicherheit — doch zum Teil zu er¬ setzen, was ihr durch ihn verlorenge¬ gangen war? Die vornehme junge Dame warfür solche Vorstellungen lange nicht zu¬ gänglich gewesen. Die kalte Logik des Egoismus, wie sie es nannte, schien ihr unendlich profan; sie glaubte, es als eine Entweihung des Andenkens des teuren Toten erachten zu müssen, wenn sein Name zugleich mit dem Begehren nach Geld, mit dem Verlangen nach materiellen Gütern genannt würde, und sie machte kein Hehl daraus, daß der Gedanke an solches Geld, der Ge¬ nuß desselben ihr immer peinlich blei¬ ben werde. Dr. Rollof war aber sehr durchdrun¬ gen von dem Ernste seiner Pflicht, die ihm gerade hier befahl, die begreif¬ lichen Gefühlswallungen seiner Man¬ dantin durch sein eigenes ruhig ab¬ wägendes juristisches Urteil über die Sachlage auf das richtige Maß zurück¬ zuführen — und so gelang es ihm denn endlich, die junge Witwe für sein Vor¬ haben zu gewinnen. Sie unterzeichnete ihm eine entsprechende Vollmacht, bat und beschwor ihn aber, es unter keinen Umständen zu einem Prozeß kommen zu lassen, sondern ihre Ansprüche ledig¬ lich den zuständigen Behörden gegen¬ über anzudeuten und, wenn er dort auf kein geneigtes Gehör stoßen sollte, lieber fallen zu lassen. „Das, was ich verloren habe,“ setzte sie leise mit einem eigenen Schimmer in den Augen bei, „kann mir ja doch niemand wieder¬ geben. Er ging mit dem ganzen Eifer an die Sache heran, welchen ihm diese selbst und außerdem der Gedanke an seine reizende hilflose Klientin ein¬ flößte. Er fand dabei auch weit weni¬ ger Schwierigkeiten, als er erwartet hatte. Der Fall war in der Presse zu breit besprochen worden und hatte zu viel Aufsehen erregt, als daß es nicht auch im Interesse der Behörden gelegen wäre, berechtigte Forderungen ohne Inanspruchnahme gerichtlicher Entschei¬ dung auszutragen. Und die Forderung chien ja an sich vollkommen berechtigt denn niemand konnte daran zweifeln, daß ein von dem Bahnfiskus zu ver¬ tretendes Verschulden des Schaffners vorlag, das den Tod des Unglücklichen herbeigeführt hatte. Nur bezüglich der Summe, die ver¬ langt wurde, stand man noch in Unter¬ handlung; denn der Betrag, welchen

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