28 Martha beschäftigt war, ihre Arbeit einzupacken. Da schaute sie plötzlich auf, sie meinte, in ihrer nächsten Nähe ein leises Geräusch vernommen zu haben; sie hatte sich nicht getäuscht, an einem der großen Baumstämme stand die hohe Gestalt eines schönen, jungen Mannes in feinem, dunklem Zivil¬ anzug. Aus dem bleichen Gesicht, von dunklem Haar und Bart umrahmt, blickten ein paar große, brennend¬ schwarze Augen mit bewunderndem Ausdruck auf Martha, die ihrerseits wie gelähmt stehen blieb und keinen Blick von der hohen Männergestalt wendete. Schweigend sahen sie sich einige Augenblicke an, bis der Fremde zu sich kam, grüßend seinen Hut zog und in dem Dickicht der Bäume ver¬ schwand. Martha fuhr sich mit der Hand über die Augen, es war ihr, als habe sie geträumt. Der Pfarrer hatte von dem Vorgange nichts gemerkt. Martha sagte ihm nichts davon, schwei¬ gend gingen die beiden nach der För¬ sterei Türen und Fenster des Förster¬ hauses standen weit geöffnet, die bal¬ samische Luft des herrlichen Morgens — strömte voll herein. An der Tur stan¬ den grüne, zarte Maien und die frisch gescheuerte Hausflur war mit feinem, weißem Sande bestreut. Es war Pfingsten. Eben läutete die Glocke des kleinen Dorfkirchleins zum Gottes¬ dienst. Frau Brigitte, im schwarzen Kleide, dem grauen Umschlagetuch, der weißen Haube auf dem Kopf und dem Gesangbuch in der Hand, machte einen gar stattlichen Eindruck. Martha ging ihr zur Seite; im lichten, blauen Som¬ merkleid und dem hellen Strohhut sah sie wunderfein und lieblich aus. Von nah und fern, aus den benachbarten Dörfern strömten die Bewohner in festlichem Sonntagsputz herbei, die Wege zwischen den Feldern mit der jungen, frischen, grünen Saat und den mit Blumen übersäten und Millionen Tautropfen getränkten Wiesen waren mit Fußgängern aller Art gefüllt, die nach dem kleinen Gotteshause wall¬ fahrteten. Von den zu beiden Seiten des Weges stehenden Obstbäumchen schimmerten die zartrosa Apfelblüten im goldenen Morgensonnenschein und die kleinen Kirschbäume brachen fast unter der Last ihrer schneeigen Blumen. Jubilierend stiegen die munteren Ler¬ chen in die Lüfte und brachten dem Schöpfer ihr Loblied an diesem wun¬ dervollen Frühjahrsmorgen. Ernst und feierlich tönte die Orgel in den stillen Morgen hinein. Frau Brigitte und Martha, die jede einen Kranz am Arme trugen, besuchten erst den klei¬ nen Friedhof, der sich ans Gotteshaus schloß und nachdem sie an dem Grabe von Marthas Mutter ihre Kränze nie¬ dergelegt und ein stilles Gebet gespro¬ chen, wollten sie eben in die Kirche eintreten, als eine elegante, offene Equipage vorfuhr, der eine ältere Dame und ein junger Mann entstie¬ gen. Es war die Gutsherrschaft, die Frau Gräfin mit ihrem Sohne, der erst kürzlich aus der Residenz gekom¬ men war. Frau Brigitte knixte tief während Martha, mit dunkler Röte übergossen, wie gebannt dastand; ihr Auge hing an dem jungen Grafen, der seinerseits keinen Blick von ihr ver¬ wandte, und die großen, dunklen Augen übten denselben magnetischen Zauber auf Martha, wie an ihrem Ge¬ burtstage, wo sie den jungen Grafen zum erstenmal gesehen. Sie erkannte ihn sofort wieder, hatte er doch, ohne daß sie sich's selbst gestehen wollte, seitdem in ihren stillen Träumen ge¬ lebt und ihre Gedankenwelt beschäftigt. Die Gräfin, die freundlich Brigittens artigen Gruß erwiderte, wandte sich jetzt mit den Worten an ihren Sohn: „Sieh doch, welch reizendes Mädchen die kleine Försterstochter geworden ist.“ Sie entriß ihn dadurch seinem An¬ starren. Er grüßte und wandte sich mit seiner Mutter zur Tür; wie zufällig drehte er sich noch einmal um und Martha, die ihm, wie im Traume nachgeschaut, fing den Blick des schö¬
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