Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1911

21 abermals, bleich wie in der vorigen, nur blickten ihre Augen strenger. Sie stand am Bett und redete ihn an: „O, mein Gemahl, Sie trauen einer ande¬ ren mehr als mir, Sie wollen meine Mahnungen nicht befolgen, nun denn es ist das letztemal, daß ich zu Ihnen spreche, dann nicht mehr, denn dann werden meine Lippen in Staub zer¬ fallen sein. Damit aber Sie und jene Buhlerin nicht sagen können, Sophie von Braunschweig sei nicht dagewesen, will ich ein Zeugnis meiner Anwesen¬ heit hier lassen. Wenn die Hand eines Lebendigen diesen Knoten zu entwir¬ ren vermag, den die Finger einer Toten geknüpft haben, dann verlachen Sie meine Warnungen; gelingt dies aber keiner menschlichen Hand, dann * mussen Sie sagen, ja, es war in der Tat Sophie, die mich gemahnt hat, von meinem bisherigen Wandel abzu¬ lassen.“ Indem sie dies sagte, nahm sie eine Binde von Spitzen, welche der König abgelegt hatte, verknüpfte diese und legte sie auf die Decke nieder; dann verschwand sie. Nun konnte der König nicht mehr zweifeln. Der Angst¬ schweiß trat ihm auf die Stirn, das Blut hämmerte in seinen Adern, er blieb regungslos liegen, die Blicke auf die Stelle richtend, wo die Königin verschwunden war. Da lag das leichte Spitzengewebe und lastete zentner¬ schwer auf ihm; er wagte nicht, es zu berühren. Endlich schämte er sich seiner Furcht, stand auf, nahm die Binde und ging in das benachbarte Zimmer, in dem eine Lampe brannte. Dort ver¬ suchte er zu wiederholtenmalen, das Gewebe zu entwirren, aber immer ver¬ geblich, es wollte ihm nicht gelingen und seine Aufregung und Angst stei¬ gerten sich. An Schlaf war nicht zu denken, er weckte seine Leute, ließ alle Zimmer hell erleuchten und begann die Schriftstücke zu lesen, die sein Mi¬ nister Walpoole ihm des Abends ge¬ sandt hatte. Der Gedanke an die Vision Am verließ ihn aber nicht wieder. — anderen Tage kam Horatia. Der König empfing sie mit düsterem Ernst und ihre Schönheit gewann keine Macht über ihn. „Die Zeiten der Lust und Freude sind vorüber; Sie wollten mich beruhigen, Mylady, aber die Königin ist diese Nacht doch wieder erschienen“, sprach er. „Ich sage aber, Sire, daß alles nur eine Sinnestäuschung war, weiter nichts“ erwiderte die Lady. Statt einer Antwort reichte Georg der Dame die Binde, dann erzählte er die Begebenheit der Nacht. „Hier ist der Knoten, versuchen Sie ihn zu lösen, und wenn es Ihnen gelingt, dann will ich wieder froh und ruhig sein“ schloß er seine Rede. — Alsbald begann Horatia mit ihren reizenden. Fingern die Arbeit; sie drehte und wendete die Binde, sie versuchte in jeder Weise die Spitzen zu entwirren, vergeblich; auch sie vermochte nicht den Knoten zu losen. „Sehen Sie nun,“ sprach der König düsteren Tones, „daß es Ihnen nicht gelingt?“ „Nun denn,“ rief die schöne Frau plötzlich, „dann werde ich Rat finden, wie ihn Alexander mit dem Gordischen Knoten fand“, sprach's und warf die Binde in das Feuer des Kamins. Der König erfaßte sie, aber sie brannte schon in hellen Flammen. Er warf sie weit weg, im Falle jedoch berührte sie den leichten Stoff, in den die Lady gekleidet war, und augen¬ blicklich stand diese in Flammen. In Todesangst rannte die Brennende durch die Gemächer, laut um Hilfe rufend. Die Bewegung entfachte die Flammen nur noch mehr; unter Jam¬ mergeschrei lief sie durch die Gänge des Schlosses, dann sank sie unter dumpfen Schmerzenslauten zu Boden, in wenig Stunden war sie verblichen. — Von diesem Tag an wurde die Schwermut des Königs immer düste¬ rer. „Ein Teil dessen, was Sophie vorausgesagt hat,“ äußerte er sich zu seinen Vertrauten, „hat sich erfüllt: keine Hand vermochte den Knoten, den sie geknüpft, zu lösen, die andere Hälfte der Prophezeiung wird auch in Er¬ füllung gehen: mein Tag ist nahe.“ So sprach der König sehr oft zu seiner Umgebung. Zwei Monate nach dem

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