um nachzusehen. Aber als er an die Stelle kam, gewahrte er nichts mehr; im gleichen Augenblicke glaubte er Weihrauchduft wahrzunehmen. Er ging ins Bett zurück; da sah er die Dunst¬ wolke wieder. Zuerst war es eine ganz unbestimmte Form, nach und nach aber nahm diese nebelartige Erscheinung die Form einer menschlichen Gestalt an. Es war kein Schatten mehr, son¬ dern ein menschlicher Körper, den die Strahlen des Mondes durchleuchteten. Der König schloß die Augen, um die übernatürliche Erscheinung nicht mehr zu sehen. Da fühlte er eine schwere kalte Marmorhand auf seiner Schulter und eine zarte, weiche Stimme rief: „Georg, Georg, Georg!“ Der König wollte sich aufrichten, da sah er den Schatten der Königin sich über sein Bett neigen. Es war ihre Gestalt, ihr Antlitz, nur trug dies die Farben des Todes. Ihre großen, dunklen Augen leuchteten; ein weißes Gewand um¬ hüllte ihre Formen und die Krone glänzte auf ihrem Haupte. Schaurig tönten ihre Worte nochmals durch die Nacht: „Georg, Sie haben das Ver¬ sprechen, welches Sie mir an meinem Totenbette gaben, nicht gehalten. Gott hat mir erlaubt, es Ihnen ins Ge¬ dächtnis zurückzurufen. Denken Sie daran, daß auch Ihr Tag nicht mehr fern ist.“ Wie ein kalter Hauch ging es bei diesen Worten über das Gesicht des Königs. Die Erscheinung war ver¬ schwunden, er horchte atemlos, aber Totenstille herrschte überall. „War das ein Traum, oder habe ich es wirklich gesehen?“ fragte er sich. „Nein, nein ich schlief nicht und es war die Königin, wie sie leibte und lebte!" Er konnte nicht mehr daran zweifeln, der Him¬ mel hatte ihm durch die Erscheinung eine Mahnung zukommen lassen. Er war entschlossen, Lady Horatia nicht mehr zu sehen. Der Schlaf war ent¬ flohen, die Stunden schlichen langsam hin; er zählte sie in Qual und Pein. Am folgenden Tage sollte bei Ladt Horatia ein großes Fest stattfinden Der König sagte ab und bemerkte zu¬ 23 gleich, daß er in nächster Zeit nur seine Minister sehen wolle. Die Favoritin geriet darüber in große Bestürzung, es gelang ihr aber doch, den König zu sprechen. Er wollte kalt bleiben, aber Horatia entfaltete die ganze verführe¬ rische Macht ihrer Reize, eine Macht, welcher der König nicht widerstehen konnte, er wurde wieder zärtlich. Da blieben seine Blicke an der Stelle haf¬ ten, wo ihm nachts vorher die Königin erschienen war. Ein Schauer ging durch seine Glieder, schnell entzog er seine Hände der Geliebten und flüsternd kamen die Worte hervor: „Gerade hier hat sie mich gemahnt, jede Verbindung — 544 mit Ihnen abzubrechen.“ „Wer? fragte Horatia, „wen haben Sie ge¬ 77 sehen? „Die Königin, meine Gemah¬ lin. „Sie und mit Ihnen ganz Eng¬ land haben die Tote beweint, denken Sie nicht mehr an die, die in Frieden ruht. „Aber Sophie war hier in letz¬ ter Nacht.“ Dann erzählte der König, welche Erscheinung er gehabt hatte. „Sire, rief die Favoritin, „Sie lie¬ ben mich nicht mehr, darum sprechen Sie von Visionen und Träumen; Sie wollen das Verhältnis, das mein gan¬ zes Glück war, lösen. Tränen und Schluchzen folgten diesen Worten. Der König, der schon das Gemach verlassen wollte, kehrte zurück und sagte noch: „Liebe Horatia, wie können Sie sagen, daß ich Sie nicht mehr liebe; wenn dies der Fall ware, dann wäre ich nicht so zu beklagen. Meine Pflicht ge¬ bietet mir, mit Ihnen zu brechen, meine Liebe aber ist stärker als der Wille Gottes, er schickt mir die Tote, damit ich von Ihnen lassen möge, und doch liebe ich Sie noch immer.“ Dies sagend, schloß der König Horatia in seine Arme. Welche Macht liegt in den Worten eines geliebten Weibes! Als der Abend kam, dachte der König nicht mehr an Sophiens Mahnung, er hatte alles vergessen. „Die Erscheinung war eine Geburt meiner Phantasie; Horatia hat recht, die Toten kehren nicht wieder“, sagte er sich. Er täuschte sich. Die Königin erschien des Nachts
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