Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1911

22 verursachen.“ Sophie erwiderte mit mattem Lächeln: „Ich fühle den nahen Tod, was liegt daran, wenn er ein Weilchen früher kommt; morgen wird es gewiß zu Ende sein. „Geben Sie sich nicht diesen Gedanken hin, die Arzte haben noch Hoffnung und ganz England betet für Sie“, tröstete Georg „Das Leben hat für mich keinen Reiz mehr; ich flehe Sie aber an, denken Sie an das Jenseits, denn morgen ich, ein Jahr später.“ Bei diesen Sie — Worten hatte sich die Stimme der ster¬ benden Königin erhoben, ihre Augen waren unverwandt auf den König ge¬ richtet, sie sprach nicht mehr, nur ihr Finger deutete gegen den Himmel, dann trat tiefes Schweigen ein, ihre Augen schlossen sich, die Lippen beweg¬ ten sich leise. Der König verließ das Gemach und ganz Windsor war Zeuge eines Schmerzes, seiner Trauer. Wie Sophie vorausgesagt hatte, geschah es am nächsten Tage lag sie auf dem Pa¬ radebett. Alles trauerte, der ganze Ho kam an ihren Katafalk. Auch Ladr Horatia kam. Als aber ihr Wagen vor der breiten Treppe des Schlosses hielt, nahte sich der diensttuende Offizier dem Schlag und bedeutete der Insassin daß sie nicht aussteigen möge. Damit war das Verhältnis zum König abge brochen. Leider zu spät! Wäre es frü¬ her geschehen, würde diejenige, die da im Todesschlummer vor ihnen lag nicht so früh gestorben sein, flüsterten sich die Anwesenden zu. Manche aber meinten, Lady Horatia sei nur darum nicht zugelassen worden, weil man den Anstand wahren wolle, die Ungnade werde nicht von langer Dauer sein. Diese hatten recht; kaum waren einige Monate vergangen, lag der König neuerdings in den Fesseln der Lady Ihre Schönheit hatte ihn wieder ge¬ fangen genommen, dennoch konnte ihre Liebe die Traurigkeit, welche sich seiner seit dem Tode der Königin bemächtigt hatte, nicht bannen. Georg hatte der Mahnung der Seligen nicht Folge ge¬ leistet, und doch konnte er deren letzte Worte nicht vergessen, sie gingen ihm nie aus den Sinn. Er liebte die Musik, Horatia veranstaltete Konzerte, aber durch das Rauschen der Melodien hörte er die Worte: „Morgen ich und Sie ein Jahr später. Sechs Monate waren seit dem Hinscheiden der Königin ver¬ gangen. Lady Horatia war nicht mehr nach Windsor gekommen, aber der König besuchte sie. Die Dame jedoch wünschte sehnlichst, wieder im Schloß erscheinen zu dürfen, um ihre zahl¬ reichen Gegner zu demütigen. Georg hatte bisher ihre Bitte nicht gewährt; die Trauer gestatte es nicht, sagte er, aber endlich erhielt sie doch die Er¬ laubnis, ihm einen Besuch machen zu dürfen. Am nächsten Tage kam die Lady nach Windsor, sie strahlte vor Stolz, doch je lebhafter sie wurde, desto stiller ward der König. Die Stunden die Horatia im Schlosse verweilte wurden ihm qualvoll lang und er wünschte den Augenblick herbei, da der Wagen der Lady wieder aus dem Tore führe. Als er nachts sein Schlafgemach betrat und sich dem Bette näherte, er¬ innerte er sich, daß die Königin eigen¬ händig den Vorhang desselben gestickt hatte. Er wollte den Gedanken an die Heimgegangene bannen, es gelang ihm nicht. Auf seinem Nachttische stand ein Kalender. Seine Augen fielen darauf; er zählte, wie viele Monate verflossen waren, seit Sophie ihn ver¬ lassen; es waren zehn. Wieder eine Erinnerung, die er los zu werden suchte. Vielleicht vermochte der Schlaf ihn von seinen trüben Gedanken zu er lösen. Er ging zu Bett, aber kein Schlummer stellte sich ein. Der ärmste Mann in seinen drei Königreichen konnte nach seinem Tagewerk schlafen, er nicht; seine Augen wollten sich nicht schließen. Durch die hohen Fenster des Gemaches warf der Mond sein blasses Licht auf den kostbaren Teppich. Plötz¬ lich sah der König zwischen seinem Bett und dem Fenster eine Dunstwolke auf¬ steigen. Er wähnte zuerst, ein Funke aus dem Kamin sei auf den Estrich gefallen und habe das Holz entzündet, daher der dünne Rauch. Er erhob sich,

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