Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1911

10 Frühlingsschimmer auf, wie jubelte und jauchzte es in dem reichen Gemüt des glücklichen Mädchens, als der Ge¬ liebte den Irrweg zurückfand — als er, auf den sie nie so recht zu hoffen ge¬ wagt, den sie nun schon verloren ge¬ geben hatte, zu ihr kam mit der Frage, ob sie sein eigen sein wolle! „Als ob ich blind gewesen wäre!“ murmelte Martl und blieb auf der Berghalde stehen. War er nicht just hier, wo er als Knabe, als Jüngling die schönsten Stunden mit Vroni ver¬ bracht hatte, wenn sie, von den Almen heimkehrend, oder zu ihnen hinanstei¬ gend, auf einem Baumstumpf ruhten, dem Bergwaldsang der Vöglein, dem springenden Quell, den zirpenden Grillen und summenden Bienen lausch¬ ten, wenn sie sich Blumenkränze wan¬ den und Waldsagen erzählten, jeden Augenblick gewärtig, daß ein Felsen¬ geist aus den Tannen treten und ihnen die dunkle Wand auftun würde, um sie eintreten zu lassen in seine Märchen¬ hallen voll leuchtenden Kristalls, blen¬ denden Edelgesteins und schimmernden Goldes. Die Wand, die jetzt dunkel vor Martl aufstieg, war der Ort reicher Sagen seit altersher. Steil und unvermittelt, wie sie aus der Berghalde aufragte, glich sie den Überresten einer giganti¬ schen Burg, die Riesenhände einst hier aufgerichtet, und noch immer schien ein menschenfeindlicher Geisterunhold dräu¬ end über ihr zu wachen; denn gar manches junge Leben war schon an ihr zerschellt, das allzu kühn an den Schroffen sich emporgerungen hatte. Oben aber an den zerklüfteten Zacken dieses riesigen Felsblockes leuchteten und schimmerten von jeher Edelwei߬ sterne — die scheuen, lieblichen Hüte¬ rinnen der Bergeinsamkeit. Darum trieb es die jungen Burschen, die mit diesen selbstgepflückten Blüten ihren Auserwählten den Beweis andauern¬ der, mutiger Liebe geben wollten, immer wieder die kahle, schwer zu be¬ steigende Wand empor. Auch Martl war schon dutzendmale oben gewesen, dem Reiz der Gefahr folgend. Bisher aber immer für andere. Ihm genügte ein Edelwei߬ tern am Hütl — den Rest der tostlichen Beute überließ er anderen, die über weniger geschmeidige Glieder verfügten und doch auch den Schmuck, der von der Hochwart kam, nicht entbehren wollten. Heute galt es zum erstenmal sein eigen Lieb — die schönsten Blumen, das reichste Sträußchen sollte sie haben Mit sicherem Fuße kletterte er empor, hier auf eine schmale Felsenkante tre¬ tend, dort mit sehnigen Armen sich emporziehend. Steinchen kollerten unter seinen Füßen weg, ein schlummernder Falke scheuchte aus kümmerlichen Föh¬ rengeäst auf, und eine Natter, die auf schmalem Grat in einer Ritze genäch¬ tigt hatte, zischte an Martls Kopf vor¬ bet —er aber kletterte, der Gefahr nicht achtend, sicher und rüstig durch den fahlen Nebel aufwärts, dem Ziel entgegen. Endlich war die Höhe erreicht. Martl fand sich für seine Mühe reichlich be¬ lohnt. Rings um ihn aus dem Geklüfte des spröden Gesteins rankten die samtenen Sterne hervor und freudigen Mutes sammelte er ein schönes Sträu߬ lein von ihnen ab. Dann stieg er ab¬ wärts— vorsichtig in der Dunkelheit, jeden Griff für die Hand, jeden Tritt des Fußes vorher prüfend und er¬ wägend. Plötzlich — er mochte höchstens noch vierzig oder fünfzig Meter von der Berghalde entfernt sein — krachte ein Schuß — gleich darauf ein zweiter Martl hielt erstaunt inne. „Wilde¬ rer!“ murmelte er. Da wurden ein paar Stimmen laut. Ein hastiges Hin= und Widerrufen, ein Begehren und Verweigern, ein Rin¬ gen, ein Kampf — Martl, dessen scharfe Augen den dichten Nebel nicht zu durchdringen vermochten, hatte aber wohl jedes Wort derer unten verstan¬ den und stieß einen drohenden Zuruf aus.

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