Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1911

Gleich darauf war auch er verschwun¬ den. 4. Kapitel. In der grauenden Dämmerung war Martl den Berg hinaufgestiegen. Wer dort nicht Bescheid wußte, wäre wohl im Nebel fehlgegangen. Ihm aber war das Gebirge vertraut, seit er zurück¬ dachte. Schon als Kind war er hier oben herumgeklettert, und auch später galt jede freie Stunde den Höhen, von denen man ins weite, lachende Tal hin¬ untersah. Heut kam es dem aufsteigen¬ den Burschen vor, als ob ihn die würzige Bergluft doppelt erfrische, als ob er hier oben noch einmal so leicht atme. Ein Stein war ihm vom — Herzen ein Druck, der ihm die letz¬ ten Wochen das freie Aufschnaufen be¬ hindert hatte. Weil es die beiderseiti¬ gen Eltern gern gesehen hätten, wenn Martl und Leni ein Paar geworden wären, war's den beiden jungen Leu¬ ten doppelt leicht gefallen, sich Sonn¬ tags bei der Tanzmusik im Dorf oder in der Nachbarschaft zusammenzufin¬ den. Sie hatten aneinander Gefallen gefunden, und nun gerade sechs Wochen war's her, daß sie einander ihre Liebe gestanden hatten. Aber von da ab war's, als fiele eine Binde von Martls Augen. Wenn er — vorher gehofft hatte, Leni würde sobald sie sich erst einmal ausgesprochen und einander Treue gelobt hätten das Blinzeln und Schauen nach den anderen, das Kokettieren und Schar¬ mutzieren mit den übrigen bleiben lassen, so hatte er sich getäuscht. Wo sie ging und stand, mußte sie die erste sein, und alle mußten ihr huldigen. Ihre Hoffahrt gab's nicht zu, daß in ihrer Gegenwart ein Bursche ein ande¬ res Dirndl schön fand —und um sie alle an sich zu fesseln, verschwendete sie nach wie vor die Künste, welche Eitel¬ „ keit und Gefallsucht dem schönen Mad¬ chen eingaben. Je mehr er das beobach¬ tete, desto tiefer empörte sich Martls 9 stolzes Wesen dagegen. Er wollte sein Mädchen für sich allein besitzen, mit jedem Blick, mit jedem Gedanken. Immer mehr entfremdete sich ihr sein Herz, und was er für Liebe gehalten verwandelte sich bald in Abscheu. So kam der Bruch, der ihr freilich über sich selbst die Augen öffnete und in ihr die heiße Leidenschaft, die sie für den Martl empfand, jäh und über¬ wältigend auflodern ließ. Vor ihm aber stieg, als wäre er aus einem wüsten Traum erwacht, ein anderes Bild empor, das in den letzten Mo¬ naten und Jahren etwas zurückgetre¬ ten war Vroni, seine Jugendgespielin, die stille, sinnige Freundin seiner Kindheit, gewann in seinen Gedanken und Wün¬ schen den Platz, den er mit Unrecht für eine andere bestimmt gehalten hatte. Gerade der Fehlgriff, den er getan, brachte ihm die tiefe Neigung zur Er¬ kenntnis, die in ihm für das schöne stille Kind mit den träumenden Augen schlummerte, und ehrlich und gerade, wie er zu handeln gewohnt war, sagte er ihr alles, was geschehen und wie es geworden, was er gedacht und getan, und wie er nun erst plötzlich erkannt habe, welches Bild ihn seit Jahren Schritt und Tritt begleitet und sicher auch nicht mehr verlassen werde. Vroni hatte keine Herzensirrungen durchzukämpfen. Wohl war der armen Häuslerstochter schon manch einer um ihrer zarten Anmut willen werbend in den Weg getreten; aber seitdem sie an¬ gefangen, zu verstehen, was Liebe sei war auch ihr Herz geheim, treu und unentwegt zu Martl gestanden. Er hätte dieses echte, in Leid und Stille für ihn schlagende Herz auch nicht ver¬ loren, wenn er es nie erkannt, wenn er Leni oder eine andere gefreit hätte. Vroni wäre dann ihren freudlosen Lebensweg duldend und verschwiegen dahingegangen, wie so manche Frauen¬ seele, deren Herzensgeheimnis mit ihr unverraten zu Grabe geht. Wie aber leuchteten ihre sanften Augen im ersten

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