Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1910

68 Novibazar Vvn de» dahin verlegten österreichi ­ schen Truppen. Dasselbe lautet: Lieber Freiherr v. Aehrenthal! Durchdrungen Vvn der unerschütterlichen Ueber ­ zeugung, daß die hohen kulturellen und politischen Zwecke, um deren willen die österreichisch-unga ­ rische Monarchie die Besetzung und Verwaltung Bosniens und der Herzegowina übernommen hat, und die mit schweren Opfern erzielten Er ­ folge der bisherigen Verwaltung nur durch Ge ­ währung von ihren Bedürfnissen entsprechenden verfassungsmäßigen Einrichtungen dauernd ge ­ sichert werden können, für deren Erlassung aber die Schaffung einer klaren und unzweideutigen Rechtsstellung der beiden Länder die unerläßliche Voraussetzung bildet, erstrecke Ich die Rechte Meiner Souveränität auf Bosnien und die Her ­ zegowina und setze gleichzeitig die für Mein Haus geltende Erbfolgeordnung auch für diese Länder in Wirksamkeit. Zur Kundgebung der friedlichen Absichten, die Mich bei dieser unabweislichen Verfügung geleitet haben, ordne Ich gleichzeitig die Räumung des Sandschaks von Novibazar von den dahin verlegten Truppen Meiner Armee an. Budapest, am 5. Oktober 1908. Franz Joseph m. p. Gleichzeitig enthielt das Amtsblatt eine an das bosnisch-herzegowinische Volk gerichtete Prokla ­ mation, worin die Angliederung Bosniens und der Herzegowina an die habsburgische Monarchie und die Schaffung verfassungsmäßiger Einrich ­ tungen für diese Länder bckanntgcgeben wird. Damit war die Annexion Bosniens und der Herzegowina durch Oesterreich-Ungarn zur Tat geworden und ein faktischer Zustand, der unter der Zustimmung und der Anerkennung Europas auf Grund des Berliner Vertrages seit einem Menschenalter zum kulturellen und wirtschaft ­ lichen Heile der Leiden Länder bestanden hatte, zu einem rechtlichen geworden; damit war etwas geschehen, was angesichts des Eintrittes verfassungsmäßiger Zustände in der Türkei, an ­ gesichts der immer dreister werdenden großserbi ­ schen Agitation und Propaganda ein Gebot der dringendsten Notwendigkeit geworden war, was aber mich — obwohl es gewiß in ganz Europa niemanden gegeben, der der Ansicht gewesen wäre, Oesterreich - Ungarn würde jemals die okkupierten Provinzen wieder preisgcbcn — zu einer Reihe ichwerer, bis hart an den Krieg führender inUvstaatlicher Komplikationen führte. Daß die Türkei nicht so ohncwciters die neue Konstellation hinnchmen würde, war erklärlich; aber auch die Mächte der englisch-russisch-französischen Entente, des erweiterten russisch-fran ­ zösischen Zweibundes erhoben gegen den Schritt der österreichisch-ungarischen Monarchie ihre Ein ­ wendungen. Geführt vvn England, das cs un ­ serer Monarchie nicht vergessen und verzeihen konnte, daß sie den Lockungen Englands wider ­ stand und eine Abschwenkung von Deutschland, die dem großen Jnselreiche bei seinen Bestrebun ­ gen, Deutschland zu isolieren, sehr willkommen gewesen wäre, verweigerte, wollten die Entente ­ mächte — obwohl speziell Rußland bereits früher, wie sich im Laufe der Verhandlungen hsrausslcllte, seine Zustimmung zur Annexion gegeben — in dein Schritte Oesterreich-Ungarns eine eigenmächtige Verletzung des Berliner Vertrages erblicken, die im besten Falle nur durch eine neue Konferenz der an diesem Vertrage respektive an der Berliner Konferenz beteiligt gewesenen Mächte saniert werden könnte, und die Türkei stimmte vorerst diesem Verlangen bei. Aber außer der Türkei und den Ententemächten meldeten sich bald noch zwei neue Widersacher: Serbien und Montenegro, denen die Annexion einen Strich durch ihre großserbischen Bestrebungen und durch ihre ExpansionSwünsche gezogen. Sie verlangten die Rückgängigmachung der Annexion oder zu ­ mindest territoriale Kompensationen und eine volle Autonomie Bosniens lind derHerzegowina. Oesterreich-Ungarn aber blieb allen Anfeindungen und Anrcmpelungen gegenüber fest; cs ver ­ weigerte — von Deutschland, das sich als ein in seiner Treue unerschütterlicher Bundesgenosse bewährte, sekundiert — die Beschickung jeder Konferenz, in der die Annexionssrage dis ­ kutiert werden sollte, es verweigerte jede Kompensation an Serbien und Montenegro und suchte zunächst eine direkte Verständigung mit der Türkei. Serbien und Montenegro appellier ­ ten wohl an die Mächte des Berliner Ver ­ trages, sie rüsteten wohl zum Kriege und über ­ schütteten die große Nachbarmonarchie mit Schimpf und Drohungen. Kronprinz Georg von Serbien stellte sich mit scheinbarer Schneidigkcit an die Spitze der antiösterreichischen Agitation, er haranguiertc Volk und Armee gegen Oester ­ reich-Ungarn, und wollte man den Bramarbasiaden des jungen Mannes glauben, so hätte

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