Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1910

63 Das Blatt entsank Piceks Händen, und er starrte einen Augenblick in den düstern Gang wie ein weit geöffnetes Grab hinaus. Dann sagte er mit er ­ sterbenden Tönen: „Gestern war es Schicksalssache, heute ist's des Teufels Rache! Gestern war es leicht, heute ist's schwer! Doch es muß geschehen. Es sei!" Er nahm das Billett wieder auf, um es nicht zumVerräter werden zu lassen, und eilte die Treppe hinauf nach seinen Zimmern, wo noch von gestern die ge ­ ladenen Pistolen lagen. Da öffnete sich leise eineTür, und die Braut, eiu Licht in der Hand, trat im Nachtgewand heraus, und rief sehnsuchtsvoll: „Eduard!" „O Gott! Aurora! schlaf Wohl!" antwortete er in schneidenden Tönen, und stürzte fort. „Was ist dir? Jesus Maria!" schrie die Entsetzte, ihm nacheilend, und riß kräftig die Tür an sich, welche Picek eben schließen wollte. Sie drang mit ihm ins Zimmer, setzte das Licht nieder, sah ihm in das geisterbleiche Gesicht und sank unter einem Tränenstrom in feine Arme. — „Eduard, was ist dir?" jam ­ merte sie laut an seiner Brust. „Ach, erschwere mir nicht den trau ­ rigen Zustand" bat er, sie sanft abweh ­ rend. „Mir ist so seltsam, ich bin krank, recht krank. Geh nur ins Schlafzimmer, ich komme sogleich nach. Ich will nur ein Mittel zu mir nehmen, das gegen jedes Übel hilft." Nein, so entgehst du mir nicht!" be ­ teuerte sie, ihn noch fester umschlingend. „Auf dir lastet Ungeheures, und mehr als gestern fürchte ich, dich nicht mehr wiederznsehen! Ha, was ist das!" rief sie, den ihm eben entfallenen Brief aufhebend. „Gewiß des Rätsels Lösung." Eduard suchte ihr das Papier zu eutreißeu, doch vergebens. Sie trat ans Licht lind überflog es mit flammenden Blicken. „O, ihr Mächte des Himmels, das ist entsetzlich!" rief sie vernichtet und be ­ deckte das Gesicht mit den Händen. „Ja, du heißgeliebtes Weib", sprach er wie im leisen Selbstvorwurfe, „das war der fürchterliche Momeut, der dir erspart werden sollte und der den zu frühenTraumdes Glückes jetzt so grau ­ sam an uns rächt. Doch geh, mein Leben, geh! LebWohl! Mache mich nicht weich, nicht schwerer mir das Scheiden durch deine süßen Lebensreize, an denen der dem Tode Verfallene keinen An ­ teil mehr hat." Da warf Aurora sich vor ihm nieder, umfaßte seine Knie uud flehte mit den Seelentönen der höchsten Angst und Liebe: „Eduard, höre mich, ich be ­ schwöre dich: Opfere nicht dein Leben dem Phantome deiner Ehre! Du bist deinem Weibe die Hilfe der Liebe, deiner lichteren Zeit die Hilfe der Ver ­ nunft als Beispiel schuldig gegen diesen sinnlosen Überrest barbarischer Ehren ­ gesetze. Ermanne dich, sei jetzt wahrhaft stark unter dem Schilde der Vernunft, nachdem du ein Jahr lang, schwach ge ­ nug, die Brust der eigenen Kugel bereit gehalten, und somit das Bewußtsein hast, der blutigen Torheit ihr elendes Recht gegönnt zu haben. Laß uns Un ­ garn verlassen. Es wird ja Wohl ein Land geben, wohin O'Nelly nicht dringt, und wäre es, nun, so mag er dich Meuchelmorden oder von bezahlten Dolchen es geschehen lassen, nicht aber verlangen, daß du die Hand an dich selbst legst, dieselbe Hand, welche ich heute zum Lebeusbund empfing. Oder wird es dir leichter an mir, als an O'Nelly wortbrüchig zu werden?" „O, quäle mich nicht!" bat er, indem er sie aufzuheben suchte. „Verlaß die er ­ niedrigendeStellung einer Büßerin — " „Es ist die Stellung einer Bittenden, deiner um dein eigenes Leben heiß flehenden Aurora, welche dein Tod so elend machen würde. Erbarme dich ihrer!" „Umsonst, üu einziges Weib, sind deine Bitten wie deine Gründe", schrie er in namenloserQual. „Die Erde kann mich nicht länger tragen, wenn ich mein Wort nicht löse. Schon sollte es geschehen sein!" Er riß die Uhr heraus. „Bei Gott, nur fünfMinuten noch habe ich mit Ehren Zeit dazu. — Geh, geh.

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