Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1910

62 Tiefe der Gefahr, welche dem Geliebten nach dem grausamen Gesetz der Ehre gedroht nnd die sie geahnt hatte, und als sie ihn nun gerettet wußte, löste sich ihr Entsetzen in jenes unaussprech ­ liche Gefühl des Entzückens ans, das im Plötzlichen Übergange von einem großen Schmerze zu einer großen Frende besteht. VI. Ter Vermählungstag der Glücklichen brach an, und die Diener eilten die Gäste zu laden, denen die eigentliche Bedeutung des Festes erst bei der An ­ kunft klar ward, als Graf Picek ihnen seine reizende Braut porstellte. Keiner ließ sich einfallen, daß sie ebenso leicht heute hätten in ein Totenhaus treten können. Indes auch selbst in desGrasen glänzendem Hotel, das er für diesen Tag gänzlich in Beschlag genommen, hatte bis zum Morgen niemand die leiseste Ahnnng, von welchem seltsamen Würfelspiele hier die Gegensätze von Tod und Heirat abhängig gewesen waren. Die Nachricht von der letzten wirkte elektrisch auf die müßigen Neuigkeitstrüger der Stadt, und die Medisance feierte an demselben Abend ein großes Fest. Es verdroß nämlich die leisen Ohren, nicht früher etwas von dem be ­ vorstehenden Ereignis vernommen zu haben, was nur bei einem mit seltener Strenge bewahrten Geheimnisse mög ­ lich war. Ein solches schien aber bei den edlen Seelen den Schluß zu rechtferti ­ gen, daß cs mit der plötzlichen Heirat eine besondereBewandtnis haben müsse, zu deren Ergründung nun meist auf Kosten der bräutlichen Ehre jeglicher Scharfsinn sich anstrengte. Unbekümmert um giftige Zungen, saß inzwischen die glückliche Aurora als Festgöttin an der Seite ihres glücklichen Eduard beim reichenMahle, und pfeil ­ schnell flogen die Stunden. Zu neuen sinnreichen und sinnlosen Trinksprüchen klangen die Gläser zusammen, immer voll nnd immer leer, als Symbole scheinbarer und wahrer Gesinnung, die nveder in den engeren noch weiteren Lebenskreisen jemals unvermischt er ­ scheinen. Der schwere edle Tokaier machte endlich dem schäumenden Cham ­ pagner Platz; lauter, ungezügelterwur ­ den die Trinker; manches rohe Witz ­ wort entschlüpfte ihnen und jagte ein höheres Rot auf die Wangen der Damen. Da ergriff Eduard den schäumenden Pokal und flüsterte, mit der Braut an ­ stoßend: „Aurora, du holdes Morgen ­ rotmeines neuen Lebens, laßmir deine Liebe nie zum Abendrot werden!" Ein leiser Sehnsuchtsseufzcr, ein zärtlicher Druck der Hand war ihre Antwort, und bald darauf entfernte sie sich unbemerkt mit den Verwandten, denn die Mitternacht war nahe. Anch der Graf benutzte den nächsten, günsti ­ gen Augenblick, wo die Trinkrunde ihre Aufmerksamkeit von ihm abzog, der harrenden Braut zu folgen. Kanin war er aus dem Saale ge ­ treten, so nahte ihm ein Kellner mit einem schwarz gesiegelten Brief, unter der Bemerkung: „Es ist eilig, HerrGraf, wie mir gesagt wurde." Unwillig über den Aufenthalt nahm Picek das Schreiben, und las neben seiner Adresse noch: „Nur eigenhändig zur augenblicklichen Erbrechung zu überreichen." — Ein Gedanke fiel ihm schwer aufs Herz. „Sollte O'Nelly noch — doch nein", beruhigte er sich, — „und wenn anch - - es ist zn spät. Heute schreibt man den ersten März." Er trat zu einer Lampe, erbrach und las und — wie ein Flor sank es ihm vor den Augen nieder. Der Brief ent ­ hielt folgendes: „Heute ist der letzte, nämlich der 29. Februar, denn es ist ein Schalt ­ jahr. Auf den letzten dieses Monats aber lantet ausdrücklich unser Duellvertrag. Demgemäß fordere ich, daß Sie sogleich nach dem Empfange dieses Schreibens, welches noch vor Mitternacht in Ihren Händen sein wird, die von mir bisher aufgeschobenc, verwirkte Genugtuung als Mann von Ehre an sich zn vollziehen. O'Nelly."

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2