Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1910

6l und schien Schwingen zu entfalten und strebte mit schmeichelnder Gewalt aus der verschlossenen Brust in die Außen ­ welt hinaus. Es war die Hoffnung, welche er so lange und fest darin begraben hielt, daß er nicht mehr an ihre Auferstehung dachte. Doch auf den Gräbern der Menschen blühen Blumen, warum nicht auch auf den Gräbern ihres Glückes wieder ein ­ mal! Und wenn elf Monate ohne den Todesbefehl verflossen waren, warum sollte nicht auch der zwölfte ohne ihn zu Ende gehen können, nnd O'Nellh seine Genugtuung nur im Bewußtsein seiner Macht gefunden haben. — Daswar der Gedanke Eduards, der aus den gespen ­ stigen Nachtnebeln der Vergangenheit immer kühner ins Morgenrot der Zu ­ kunft hinausstrebte.. Er wollte etwas tun rind wagen in diesem dunklen süßen Drange nach Glück. Er faßte einen Entschluß-, er schrieb an Auroren folgende Zeilen: „Entweder bin ich morgen tot oder mein neu gewonnenes Leben ist auf ewig dein! Bist du im letzten Falle bereit, an dem genannten Tage auch ganz mein zu werden?" Die Antwort war ein einfaches: Ja! aus Silberfäden auf einem grünen Bande, das einen Efeuzweig um ­ schlang. Eduard drückte es an seine Lippen und schrieb zurück: „Nimm meinen Dank. Wir sehen uns entweder nie wieder oder ich bin, sobald dieMit ­ ternachtglocke morgen verhallt ist, bei dir, um nie wieder von dir zu scheiden. Erwarte mich also. Die Nacht ist des Opfers wert." Ter verhängnisvolle Tag erschien, dessen Scheideminnte zugleich seine eigene ans einem elenden Dasein wer ­ den sollte, wenn ein so boshaftes RaffinementO'Nellys noch in dieser äußer ­ sten Bestimmung zu denken war, oder der Wendepunkt zu einem neuen liebeseligen Leben. Er verließ während des ganzen Tages das Zimmer nicht, um den Post- und wahrscheinlichen Todesbotcn nicht unnütze Gänge wegen des Empfangscheines über den Brief zu machen. Allein niemand kam, und die letzte Februarsonne sank in reiner Schönheit endlich in ihr frühes Grab. — Werd' ich dein nächstes Morgenrot Wiedersehen, das Morgenrot eines mir zu gehörigen neuen Lebens!? rief er dein scheidenden Gestirn zu. Er träumte sich eine bejahende Antwort in dessen letzten Strahlen, deren Widerschein in den Purpur- und Roscnwolken rings ­ um, hoch oben in einem lieblichenMeer ­ grün, verschwamm. Er traf jetzt in aller Stille die Vor ­ bereitungen zu seinen! Vermählungs ­ fest, aber auch — zu seinem Leichen ­ begängnisse. Er lauschte mit verhal ­ tenem Atem dem heranschwebenden Schicksal, während ihm die Uhr mit eintöniger Geschäftigkeit die verrinnen ­ den Minuten vorrechnete, von denen nun jede folgende Sekunde an Bedeutung zunahm. Die geladenen Pistolen lagen auf dem Tisch. Stunde auf Stunde verrann. Nichts regte sich in ­ des, und auch die letzte, welche noch über Leben und Tod entscheiden konnte, war gekommen — denn es schlng zwölf. Mit der wachsenden Dämmerung und mit jedem Schlage der Mitternachts ­ glocke schwoll ihm das Herz in höherer Wonne nnd als der letzte verhallt war, löste er den verschlossenen glühenden Gefühlsstrom auf in einem tiefen, seli ­ gen Ach! Jetzt stürmte er fort zu Aurora, der mit dem Leben wiedergewonncnen Aurora, die an dem heutigen Tage noch sein eigen werden sollte für immer, nachdem sie seiner Liebe bis zum letz ­ ten, entscheidenden Augenblicke vertraut hatte. Sie empfing ihn mit einer langen, stummen Umarmung, und als beide sich daraus aufrichtcten, hing noch in einer himmlischen Minute Aug an Aug, Seele an Seele, bis es zu Wor ­ ten, zu Fragen, zu Erklärungen kam, und Eduard nun den dichten Schleier von seinem Geheimnisse, und der damit verbundenen Leidenssumme zog. Da blickte Aurora schaudernd in die ganze

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