Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1910

60 weiteren Kreisen, dennoch wieder. Wie ein Blick ergriff sie der Gedanke, daß sie den Geliebten seit jener zärtlichen Szene, welche der lauschende O'Nelly durch sein rohes Gelächter unterbrach, nicht wiedergesehen hatte, und daß es den gewechseltenWorten zufolge jeden ­ falls zwischen beiden dann zu einer ernsten Szene gekommen war. Nein, ich täusche mich nicht, dachte sie, wenn ich auch den Schleier nicht ganz zu lüften vermag. Dieser O'Nelly ist eine Hauptperson in dem dunklen Spiele feit jener Zeit, und daß er es gewonnen, beweist bei Eduards Ver ­ schwinden sein triumphierendes Lächeln, das gleich Wetterleuchten iu schwüler Sommernacht über die düsteren Züge gleitet. Sie fand den Mann jetzt selbst unheimlich, den sie einst deshalb gegen die Gräfin in Schutz nahm. O'Nelly näherte sich jetzt den Damen angelegentlicher, insbesondere Aurora. Diese fand darin einen Grund mehr für ihre grauenhafte Vermutung uud einen folgerichtigen Zusammenhang mit dem Hohngelächter des Irländers bei der Umarmung Eduards. Sie wandte sich entsetzt van ihm, während das Interesse der Gräfin da ­ gegen an ihm sichtbar zünahm. „Der Arme hat wahrscheinlich den Spleen, welcher der Wasserkur noch nicht weichen will", sagte diese; „daher ziehen so krause Wolken, gleich den Nebeln des Altenglands, über seine Stirn, und es ist menschlich, ibn durch Teilnahme zu erfreuen." Aurora schwieg. Es schien ihr ein un ­ dankbarer Dienst, die aufkeimende. Liebe der freundlichen Wohltäterin durch ihr Mißtrauen gegen den Ir ­ länder zu stören, um so mehr, da dieser, beleidigt vou ihrer schroffen Weise in seinem stählernen Mnnnesstolze, seine Aufmerksamkeit bald vou ihr abzog und bei der Gräfin erhöhte. Denn O'Nelly besaß jene gußfeste männliche Selbstschätzung, an der die Fackelbrände der Leidenschaft wirkungslos erlöschen, sobald sie nicht in der weiblichen Sym ­ pathie ihre weitere Nahrung finden. Und die geistvolle Gräfin, auf deren Wangen durch die beharrliche, segens ­ reiche Kur das Morgenrot einer neuen Gesundheit täglich höher stieg, deren Mund nnd Auge die wachseude Nei ­ gung zu ihm stets schöner offenbarten, hatte zwar nicht die göttlich sinnlichen Reize Aurorens, wohl aber jenen Zau ­ ber echter Weiblichkeit, der langsam, doch schwer, die sanftere Schönheit in ihrem Siege über einMännerherz un ­ terstützt. Daher folgte der Baronet immer williger dem magischen Zuge zu der anmutigen hohen Frau ; er wich fast nicht mehr von ihrer Seite, und sie nahm mit leuchtendem Auge seine Be ­ gleitung an, als sie die Kur beendigte, um sich auf ihre Güter iu Schlesien zu begeben. Die Gräfenberger aber be ­ trachteten die Scheidenden als ein ver ­ lobtes Paar. Inzwischen hatte die unglückliche Aurora nichts von Picek vernommen und, halb aus Stolz, halb aus Achtung vor seinem Geheimnisse, weder einen Versuch zu dessen Lösung selbst, noch zur klareren Ergänzung jener Todeszeilcn gemacht. Die Gräfin wußte uicht, daß es zwischen ihr und Picek zu einem Verhältnis und einer feindlichen Berührung mit O'Nelly gekommen war, wenn sie auch des Mädchens ge ­ beugten Geist aus einer heimlichen Neigung für den entschwundenen Grafen erklärte, und .Aurora fürchtete so sehr eine Berührung ihrer HerzensWunde, daß sie beharrlich schwieg und jeder Hiudeutung darauf sorgfältig auswich. Picek blieb in Pest. Noch wenig Wochen galt es, und das verhängnis ­ volle Jahr war vergangen, ohne daß er je wieder etwas von seinem Gegner gehört hätte. — Wie dieMärzlüfte auf ihren rauhen Schwingen so heilige, reizendeNaturlieder wiegen, wie es sich mit ihnen geheimnisvoll regt durch die winterliche Natur, so erwachte in der Gemütsnacht des Grafen ein leises, längst nicht mehr gekanntes Gefühl,

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