Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1910

57 nächste Iahe eine Prüfungszeit für die Wahrheit dieser auch äußerlich frei ge ­ wordenen Liebe Aurorens werden könne, wenn anders, wie es jedoch so unwahrscheinlich war, O'Nelly von seiner Gewalt über sein Leben keinen Gebrauch machte. Der Diener meldete den Marchese di Bastiani, und der Graf war einen Augenblick unschlüssig, ob er ihn vor sich lassen solle; indes entschied er sich endlich dafür. „Was bringen Sie mir, Herr Mar ­ chese?" rief er dem Eintretenden zn. „Doch wohl die Todesanweifnng vom Baronet. Nur her damit." „Nicht doch," lächelte Bastiani ge ­ heimnisvoll, „nicht doch, Herr Graf, so eilig ist's mit dem ernsten Geschäft nicht. Ist's möglich, so soll es sich viel ­ mehr so früh als möglich in einen Frie ­ densschluß ohne Schuß auflösen, und ich komme her, mir deshalb die Palme zu verdienen." „Wie soll ich das verstehen?" fragte der Graf erstaunt. „Vor allen Dingen, schickt O'Nelly Sie?" „Warum? Ist das nicht gleich ­ gültig?" war Bastianis Gegenfrage. „Das wird sich finden. Reden Sie." „Nun denn, im tiefsten Vertrauen," sagte der Italiener mit lauernden Blicken nähertretend, „es könnteMittel geben — " „Welche Mittel?" fiel Picek mehr überrascht als neugierig ein. „Sie müssen mich nicht unterbrechen. Es könnte Mittel geben, den Baronet zur Verzichtleistung ans seine blutigen Ansprüche zu bewegen. Ich kenne ihn ziemlich genau, und es ist diese Hoff ­ nung zwar nur auf die eigene Hand gebaut, aber nicht ohne soliden Grund. Da Sie durch das Todesverhängnis doch einmal zur Entsagung auf Ihr irdisches Glück verurteilt sind, so sollte ich meinen, könnte selbst ein großes Opfer daran Ihnen nur leicht werden. Dahin gehört auch Ihr Verhältnis mit dem Fräulein von Pokorni, von dein die Badegesellschaft als von einer ab ­ gemachten Verlobung spricht. Räumen Sie hier freiwillig das Feld für O'Nelly, unterstützen Sie seine Bewer ­ bungen bei der Dame, für welche er sich lebhaft interessiert, und bieten Sie ihm durch meine Hand, da er arm ist, eine Verschreibung der Hälfte Ihrer Güter, aber keineswegs etwa als Preis für Ihr Leben; nein, als einen Akt beispiel ­ loser Großmut vielmehr, um dasselbe eines edlen Magyaren würdig zu be ­ schließen. O'Nelly ist ein großherziger Mann, und wird sich von Ihnen an Edelmut nicht übertreffen lassen wollen, ich wette darauf. Zwar ist sein Haß gegen das Geschlecht Picek groß, allein ich denke dennoch, alles glücklich zu ver ­ mitteln, sobald ich nur die nötigen Pa ­ piere von Ihnen in den Händen habe." Der Graf sah den Dienstfertigen lange verächtlich an und fragte endlich: „Reden Sie im Geiste O'Nellys oder nur in dem Ihrigen? Zu seiner Ehre will ich glauben, daß der Vorschlag nur von Ihnen kommt, wie Sie sagen; sonst würd' ich meine Hand bedauern, daß sie denWürfel zu einemso elenden Spiele faßte. Was aber berechtigt Sie, mir, dem Magnaten Ungarns, einen solchen entehrenden Vorschlag zu machen?" „Herr Graf, Ihr Leben — " preßte Bastiani schüchtern hervor. „Ich werd' es der Ehre opfern, sobald es dem Baronet beliebt", sagte Picek mit erhabener Resignation. „Er kann die Vernichtung dieses Lebens verlan ­ gen, und sie wird geschehen; doch hat er keinen anderen Teil daran als den Tod, und so lange es daher noch mein ist, soll es auch ganz mein bleiben mit seinem ganzen Inhalt nnd Gepräge! Doch wem sag' ich das! Das geht über Ihre Begriffsfähigkeit, lieber zu ster ­ ben, als das Leben mit einer Braut zu erkaufen, wenn man eine andere so leicht wiederzufinden hoffen darf wie ich, und mit der Hälfte seiner Güter, wenn man dabei immer noch so reich bleibt wie ich. Ja, es ist ein anderer Geist in mir und in Ihnen, ich geb' es

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