Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1910

56 Sie daran erinnert, daß der größte Teil des Magyarenvolkes noch vor nicht gar langer Zeit als leibeigen ein solches begriffsloses Dasein hatte und auch ertrug. War aber damals, als der ungarische Edelmann noch den Bauer nach Gefallen niederschießen lassen konnte, nicht dessen Zustand moralisch weit elender als der Ihrige? Sie sind nach Ihrer Willensfreiheit mit dem Leben mir auf einige Zeit verfallen, nnd dies kann Sie über Ihr Schicksal erheben, wahrend jener, willenlos ge ­ boren, Fluch und Gefahr dieser niederen Geburt auch willenlos durch sein ganzes Leben trug. Was war der schlimmste Alleinherrscher gegen eine Legion solcher blutsangenden kleinen Despoten! lind wann wird der letzte Begriff der Knechtschaft gänzlich verschwinden, wo ­ rin eben noch der lange Schatten znm Lichte der Menschenwürde besteht!? Leben SieWohl, meine Herren!" — Er ging und Bastian! folgte ihm. IV. Kaum kann es Wohl eine seltsamere Lage geben, als die des begüterten, jungen und liebenswürdigen Grafen Picek, dem in das reichste Füllhorn des Glückes, dessen diese arme Erde fähig ist, das schönste, edelste Mädchen soeben noch ihre Liebesrasen gelegt hatte. Das Duell, worin bisher das Faustrecht in seinen letzten Zuckungen dem rohen Be ­ griff der männlichen Ehre vertrat, sehen wir in unseren Tagen bei Picek zu dem fürchterlichen Zerrbild eines Würfelspieles um den pflichtmüßigen Selbstmord des Besiegten ausgeartet. Das Strafgesetz einer höher gestiegenen sittlichenWeltordnung soll dadurch um ­ gangen werden, weil die brutale Ge ­ walt auch im letzten Winkel des Pri ­ vatlebens noch ihre alte Herrschaft gegen die vordringende Humanität so lang als möglich verfechten, die Men ­ schengeschichte ihre Blntschrift immer noch nicht verlengnen will. Picek, der Sklave jenes alters ­ schwachen Ehrbegriffes, wonach die fremde Meinung, nicht das Unrecht an sich, entwürdigend erscheint, war 'nun der Sklave feines Gegners gewor ­ den. Das Haupt in die Hand gestützt, saß der dem Tode Verfallene auf seinem Zimmer nnd sann darüber nach, mit welchem Auge, mit welchenWorten er der geliebten Aurora jetzt entgegen ­ treten solle. Aber sein sonst so leichter Gedankenfluß war ein Bleistrom, der immer um den einen Punkt sich herwülzte, daß er nicht mehr mit Sicher ­ heit über eine Stunde verfügen könne, während der Bund mit der Geliebten ein ganzes Leben betreffen sollte. Konnte er ihn schließen in der sicheren Voraussetzung, sie binnen kurzem zur Witwe machen zu müssen? War der Trennungsschmerz jetzt größer oder dann? Er wußte es nicht zu beantworten, er konnte nicht zu einem Wunsche, nicht zur Anschauung der poetischen Situa ­ tionen kommen, welche hier die Not ­ wendigkeit selbst gebar, nämlich: des Lebens süßesten Inbegriff im höchsten Liebesgenusse mit dem Tode zu ver ­ mählen, nicht zu dein kühnen Ent ­ schlüsse, ungeachtet das Schwert des Damokles über seinem Haupte schwebte, für den Ehebnnd mit Auroren sich einsegnen zu lassen, nm in ihren reizenden Armen zu sterben, wenn sein letztes Schicksal, das in O'Nelly gleich ­ sam zur Persönlichkeit geworden war, es so verlangte. Picek war ein zu be ­ sonnener und ehrlicher junger Maui:, um den großen Tranni einer solchen entzückenden Genugtuung des Lebens vor dem Todesmoment fassen und ver ­ wirklichen zu können. Endlich beschloß er doch, Auroren die volle Freiheit über ihr Herz zurückzngeben; denn er ­ fühlte selbst nur zu sehr die lähmende Macht seinerWillensfessel, nmsie einem geliebten Leben lassen zu können. Ja, er dachte überhaupt nnd mit Recht, daß Liebe ohne Freiheit kein Begriff sei, nnd daß dies verhängnisvolle

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