Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1910

4«) Kainszeichen aufHarsdörfcrs Stirn er ­ blickt: ans dem leichenblassen Antlitz hatte er das Geständnis seiner Schuld gelesen, nnd des Menschenkenners Auge hatte tief hinabgeschant in seines Kol ­ legen Brnst. Die Ahnung, er stehe im Begriff, das teuerste seiner Güter schlimmen Händen anznbertranen, flog durch seine Seele, und unaufhörlichwar er bemüht, über das frühere Verhält ­ nisMagdalenens zuHarsdörfer die ge nauesten Nachrichten einznziehen. PhilippMoser, der treue FreundMag ­ dalenens auch in den Stunden der Trübsal, kam ihm hier bereitwillig ent ­ gegen. Mit Feuer schilderte er seine ein ­ stige eigene Neigung für das Mädchen, er gedachte aller der Schmeichelkünste, durch die es dem Patrizier gelungen, Magdalenens Liebe sich zu gewinnen, er erwähnte der bangen Besorgnisse des verstorbenen Goldschlager, daß seiner Tochter Los durch diese Leidenschaft sich traurig gestalten werde, und mit heili ­ gen Eiden erbot er sich, darzntnn, daß Harsdörfer allein der Mann gewesen, dein Magdalena sich in Liebe hingegeben habe. Besserer erwog prüfend diese Angaben und trat eines Abends in das GefängnisMagdalenens, die er in weicher Gemütsstimmung antraf. Teilnehmend fragte er, ob ihr nichts mangle, drückte sein tiefes Mitleid an ihrem Schicksal ans nnd wies sie auf die Religion hin. Seine Worte fanden Eingang bei der Unglücklichen: mit -Offenheit sprach sie von ihrer Person und von dem, was sie getan, und der Bürgermeister hoffte, daß sie mich dessen erwähnen werde, der ihr dies Los bereitete. DasMädchen schien diese Absicht erraten zu haben, denn sie bat, den Gegenstand ruhen zn lassen. Doch hatte er genug aus ihren Reden schöpfen können, um zu dem festen Vor ­ satz zn gelangen, das Verhältnis seiner Tochter mit Harsdörfer aufznheben. — Eine tiefe Stille herrschte in derVer ­ sammlung, in die Magdalena gebracht worden war, da erhob sich der Bürger ­ meister von Besserer von seinemStuhle, mit ihn: sein Amtsgenosse und der ganze Rat. „Schon vor dreien Tagen", sprach langsam der Alte, zu Magdalena sich wendend, „ist dir, Unglücktiche, durch den Syndikus unserer freien Reichs ­ stadt das Urteil angekündigt worden, das dich ob vollbrachten Kindsmordes, dir zur wohlverdienten Strafe, anderen aber zum abschreckenden Exempel, zur Enthauptung verfällt. Vernimmes nnu noch einmal hier in offener Ver ­ sammlung." Er entfaltete eine Rolle Papier und reichte sie seinem Kollegen Harsdörfer nut den Worten: „Beginnet nun die Hebung des peinlichen Gerichtes!" Harsdörfer nahm die Nolle, nm das Todesurteil zu verlesen; aber die Schriftzüge kreuzten sich wie Blitze vor seinen Augen; wie gelähmt war die Zunge, seine Knie bebten, sein Atem stockte; Todesschweiß bedeckte seine Stirne. Besserer hatte ihn nicht aus dem Auge gelassen; sein Blick durch ­ bohrte den Schuldbewußten, der endlich zurück in seinen Sessel sank. Da nahm Besserer die Nolle, verlasmit feierlicher Stimme das Urteil, brach den Stab, warf ihn der Verurteilten vor die Füße nnd sprach: „Dein Leben ist verwirkt, Gott sei deiner Seele gnädig! Nach ­ richter, hier übergebe ich dir dieseMisse ­ täterin, daß du sie mit den: Schwerte vom Leben znm Tode bringest; Ihr aber, Versammelte, hütet euch, bei des Reiches Acht, den Nachrichter in seinem Amte zn stören." Meister Wcidenkeller nahte sich mit seinem Gehilfen nnd nahm die Ver ­ urteilte in Empfang; aufs ncne begann das Glöcklein zn tönen, die Versammlnng brach auf nnd der Zng setzte sich in Bewegung. Von dem Rathaus aus ging es über den Platz an der „Oberen Stube", dann bog man über den Münsterplatz durch die Hirschstraße zum Göcklingertor hinaus. Standhaft be ­ nahm sichMagdalena, sie sprachmit den ihr zur Seite gehenden Geistlichen von der sich bald öffnenden Ewigkeit und

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