Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1910

40 Der Bürgermeister von Schad war gestorben nnd die ganze Bevölkerung Ulms hatte sich ans die Beine gemacht, nm der Begräbnisfeier anznwohnen, diemit derWürde nnd dem Stande des Verblichenen angemessener Pracht be ­ gangen wnrde. Unter dem Klange der Glocken nnd dem Schalle der Posaunen van dem Turme des alten Münsters herab ward die Leiche zn ihrer Ruhestätte begleitet, und in salbungsvoller Rede pries der geistliche Sprecher die Tugenden und Verdienste des Entschlafenen nnd flehte den Himmel an, daß ein ihm ähnlicher Mann Nachfolger in seinem Amte werden möge. Schon wenige Tage nachher sollte auch dieser Nachfolger gewählt werden, nnd in allen angesehenen Familien der Stadt, die ein Glied im Ratskolleginm sitzen hatten, wurde mit größtem Eifer darauf hingearbeitet, diesem die ' er ­ ledigte Würde zuzuwendcn. Gewaltige Umtriebe unter dem stimmberechtigten Volke zugunsten dieses oder jenes der Bewerber waren an der Tagesordnung: freundliche Worte, Versprechungen, freie Zech ­ gelage nnd klingendes Silber wurden nicht gescheut, und in allen Schenken der Stadt war die bevorstehende Bür ­ germeisterwahl das Gespräch des Tages. Auch in der Herberge „Zur unteren Stube" war am Vorabend der Wahl von letzterer allgemein die Rede: die zahlreiche Gesellschaft hatte sich eiugefnnden und sprach dem kräftigen Biere, das hier ausgezapft wnrde, so tüchtig zu, daß die aufwartende Tochter des Hauses, nach der Ulmer Abkürzung „Made" genannt, vollauf zu tun hatte, um die schnell geleerten Deckelkrüge wieder aufs neue mit dem trefflichen Naß zu füllen. Von allen Seiten wurden die Vor ­ züge und Fehler der einzelnen Bewer ­ ber nm die Bürgermeisterstelle bekrit ­ telt nnd beleuchtet, und da jede Partei ihren Anhänger fand, ward das Ge ­ spräch bald so hitzig geführt, als ob an diesem Abend noch, nnd zwar von den Gästen der unteren Stube selbst, der neue Bürgermeister zu wählen wäre. Vor allen zeichnete sich der Buchbinder ­ meister Zirkel aus, ein Mann, den der Drang, über Staatshändel nnd öffent ­ liche Dinge seinen Gefühlen Lnft zn machen, selten ruhig an seinem Tische sitzen ließ, der vielmehr stets, bald im „Pflug", bald in der „Unteren Stube" oder wo sonst durstige und wißbegierige Zuhörer zu finden waren, sein gewich ­ tigesWort von dem bestehenden schlech ­ ten Regiment, nnd von dem, was Not tne zum Volksheil, ertönen ließ. Auch jetzt war er eben im Zuge, die notwen ­ digen Eigenschaften des neuen Bürger ­ meisters aufznzählen, als die Türe sich öffnete und der Ratsherr Harsdörfer in die Stube trat. Leutselig und herab ­ lassend begrüßte er die Anwesenden, die, über die Ankunft des vornehmen Gastes erstaunt, ihr Gespräch abge ­ brochen hatten. Harsdörfer bemerkte es und sagte: „Ihr werdet euch doch, werte Mitbürger, durch meine Ankunft in eurer traulichen Unterhaltung nicht stören lassen, hoffe ich. Es ist lange her, seit ich in eurem Kreise vergnügte Stunden verlebte; raubt mir ja doch mein Amt beinahe jeden frohen Augen ­ blick. Und wie geht es denn euch, liebe Freunde? Da ist ja mein alter Schul ­ kamerad Hägele, und hier Freund Röscheisen. Seid bestens gegrüßt, Meister Zirkel; ich habe in der gestri ­ gen Sitzung darauf angetragen, sämt ­ liche Rechnungen nnd Protokolle durch euch einbinden zu lassen, da ich weiß, daß Ihr ein Meister in derlei Arbeiten seid. Doch ich habe euch in eurem Ge ­ spräch uuterbrochen; fahret fort, Freunde, ich höre gern zu, wenn ver ­ ständige Männer sich von Dingen un ­ terhalten, bei denen es allerlei zu denken gibt; war's doch gewiß die Bürger ­ meisterstelle, von der Ihr sprächet, nicht? Wahr ist es, wer dieses Amt zu

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