Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1910

32 wie Strohhalme hin- und hergeworfen wurden. Dann wieder Stille, Todes ­ stille. Aber dieser eine Stoß hatte einen kleinen Spalt in dieMauer gegraben', Paolo sah es und begrüßte es mit einem Freudenschrei. Jetzt, jetzt war Hoffnung auf Rettung. Vorsichtig kroch er auf allen Vieren nach der Öffnung, schob seinen Leib hinaus und rief laut uni Hilfe, während er mit Wonne die frische Luft einsog. Alberti hatte mit lauerndem Blicke jede Bewegung Paolos verfolgt, jetzt, da er ihn außen wußte, kroch er fo schnell er konnte an Klarissa heran, die ihn mit großen Augen wie eine Er ­ scheinung anblickte, riß ihr mit einer ungestümen Bewegung das kostbare Diadem, das Halsband und die wert ­ vollen Armbänder ab und machte sich so schnell wie möglich daran, durch den Spalt, durch den Paolo durchgegeschlüpft, ebenfalls ins Freie zu ge ­ langen. Ein Schrei drang an Paolos Ohr, Klarissa hatte ihn ausgcstoßen, als sie in dem Manne, den sie geliebt, den elenden, gemeinen Dieb erkannte. Paolo hörte den Schrei, seineHilferufe waren gehört worden und eben bog eine Rettnngskolonne um die Ecke und näherte sich im Laufschritt. Paolo wiukte, warf sich nieder, um durch den Spalt zurückzukriechen und nach Kla ­ rissa zu sehen. In diesem Augenblicke sprang neben ihm Alberti in die Höhe, ihm trium ­ phierend den Schmuck entgegenhaltend mit den höhnischen Worten: „Tor, kriech zurück zu deiner Klarissa, dies hier habe ich mir geholt, es soll mir zn neuem Leben verhelfen." Schnell wollte er forteilen, aber Paolo hielt ihn mit Riesenkraft an dem einen Fuße fest .. . Alberti schleifte ihn mit hinaus... da, im entscheidenden Moment, kamen die Soldaten an Ort und Stelle, sie sahen § den Schmuck in Albertis Händen, sie hörten Paolos Worte: „Dieb, elender Schurke, gib den Schmuck zurück!" — siewußten genug ... eins, zwei, drei ... ein Knall — und Alberti lag tot, blut ­ überströmt am Boden. Es war strenger Befehl gegeben worden, Diebe, auf frischer Tat ertappt, beim Plündern er ­ barmungslos sofort niederzuschießen. Wenige Minuten später, und Paolo und Klarissa wurden auf Tragbahren dem Hospitale zugeführt. Klarisfa lag ohnmächtig; Wohl ihr, sie sah nichts von den entsetzlichen Szenen, die sich in der Trümmerstadt abspielten. Dort trugen Matrosen fremder Nationen Tragbahren mit stöhnenden Verwundeten, da liefen Menschen halbnackt umher, in jammern ­ den Tönen nach ihren Lieben rufend, viele lagen auf den Knien vor ihren eingestürzten Häusern und gruben hastig mit ihren Händen, als könnten sie die lebendig Begrabenen befreien. Hier schaufelten Soldaten und arbeite ­ ten todesmutig an dem Rettungswerke, da standen Menschen frierend nnd hun ­ gernd und drängten sich zu der Stelle durch, wo Lebeusmittel uud Kleider verteilt wurden. Paolo lag leichenblaß; er schloß die Augen, um nichts mehr von all dem Schrecklichen zu sehen. ImHospital erholten sich beide nach nnd nach. PaolosMutterwar von Rom herbeigeeilt, uud in ihrer Begleitung verließen sie so bald wie möglich die Schreckensstütte, nm sich in Nom einem neuen Leben hinzugeben. Klarissa hatte in den Schreckenstagen- Paolo lieben gelernt, sie wurde seine Gattin, nnd in einer überaus glücklichen Häuslichkeit vergaß sie nach und nach die furchtbaren Stunden in der Trüinmerstadt am blauenMittelmeer.

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2