Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1910

Klarissa. Erzählung aus den Unglückstagen von Messina von K. v. Wüloiv. in wunderbar klarer Himmel wölbte sich über der herrlich gelegenen italienischen Stadt am Ufer des blauen Mittel ­ meeres. Eine leichte Brise kräuselte die schaumgekrönten Wellen, die sich leise und melodisch am Ufer brachen. Es war die Zeit des Korsos; elegante Wagen fuhren auf und ab, die Insassen in mehr oder minder kostbare, reiche Toiletten gekleidet. Schöne Frauen, mit großen dunklen Augen und dem lebhaften Mienenspiel der Südlän ­ derinnen, grüßten und winkten in diesen und jenen Wagen, sprachen und lachten. Alles atmete Fröhlichkeit, Sorglosigkeit, niemand dachte Wohl daran, daß der graue Riese da in der Ferne, dem eine leichte Rauchwolke ent ­ stieg, all der bestehenden Herrlichkeit schnell ein Ende machen könne, wenn er die Laune dazu habe. In einem der elegantesten Wagen saß neben einer älteren Dame ein rei ­ zendes junges Mädchen, ganz in duf ­ tige, Weiße Stoffe gehüllt, auf den dunklen Locken ein Weißes Federhüt ­ chen. Aus dem blühenden, rosigen Kindergesichtchen leuchteten ein Paar wun ­ derbar tiefe blaue Augen, die seltsam mit dem dunklenHaar und den dunklen Augenbrauen kontrastierten. Vis-ü-vis den Damen saß ein jungerMann, viel ­ leicht Ende der Zwanzigerjahre, der kein Auge für die ihn umgebendeHerr ­ lichkeit, sondern nur für das junge Mädchen hatte, das ihm da gegenübcrsaß und ihn nicht einmal zu bemerken schien, was mißliebige Blicke der alten Dame zur Folge hatte. „Klarissa, es ist Zeit, nach Hause zu fahren", brach die Dame endlich das Schweigen, das anfing, sich mit Zent ­ nerschwere auf die drei zu lagern. Klarissa blickte auf. „Ist es schon so spät, Taute?" „Ja, bedenke, daß wir diesen Abend ein Ballfest bei uns haben und daß es da noch so vielerlei zu tun gibt, wenig ­ stens für mich. - Sie bleiben doch ein paar Tage bei uns, Paolo?" wandte sie sich an den jungen Mann. „Ich muß morgen nach Rom zurück. Die Antwort, die endgültige Antwort, weshalb ich hiehergekommen, hole ich mir morgen bei dir, Klarissa, vor meiner Abreise." Um die Lippen des jungen Mädchens spielte ein eigentümliches Lächeln. Eben wollte es antworten, als der Wagen plötzlich durch eine Stauung der anderen Equipagen zum Stehen kam und sich ein schlanker, bildschöner Offizier aus den Reihen der Fuß ­ gänger, die auf dem Trottoir fluteten, löste und schnell an den Wagcnschlag trat, höflich und ehrerbietig die drei Insassen grüßend. Eine dunkle Nöte übergoß das Gesicht Klarissas, der die Begegnung Wohl ganz plötzlich und un ­ erwartet kam. „Sie hier, Herr Kapitano? Ich glaubteSicinPalermo", sagtedieKointesse. „Ich habe meine Abreise nach Pa ­ lermo verschoben, um dem heutigen Balle bei den Damen beizuwohnen, da Sie so gütig waren, mich dazu aufzu ­ fordern und Komtessemir den Kotillon versprochen haben." Seine dunklen Augen bohrten sich dabeimit einer Glut in das Antlitz des jungen Mädchens, das wie gebannt im Wagen saß und stumm eine bejahende Antwort gab. Die alte Dame warf einen unwilligen Blick auf dasMienen ­ spiel und auf das Gebaren des jungen Paares, das ganz vergaß, daß es nicht allein war, und der junge Mann im Wagen maß den Offizier mit drohen ­ den, feindlichen Blicken. In diesem kritischen Augenblicke setzte sich der Wagen wieder in Bewegung, der Offi ­ zier trat höflich grüßend zurückmit den an die Komtesse gerichteten Worten:

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2