Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1910

12 Wut zerrte er den Förster zu dem Steine hin und versuchte ihn auf denselben hinanfzuschwingeu. „Hinunter zu ihm!" schrie er. Ehe jedoch die an ­ deren helfend beispringen konnten, er ­ schlafften die Hände des Wendlehncrs, er taumelte zurück und bewußtlos schlug sein Körper zu Boden. Seit einer Woche lag der alte Bauerauf seinem Bette. Zuerst in wirren Fieberträumen befangen, dann dumpf vor sich hinbrütend, ohne Empfindung für alles, was um ihn her geschah. Zuletzt begannen seine Züge sich zu be ­ leben, ein finster drohender Ausdruck strahlte aus seinen Augen und eines Morgens erhob er sich hastig von seinem Lager, kleidete sich mit zittern ­ den Händen an, und zum Schrecken der Ehhalten tönte bald darauf die etwas heisere, aber immer noch starke Stimme des Bauers vou der Türschwelle über den Hof: „Michel! Schnell einspannen!" In kurzer Zeit stand der leichte Korb ­ wagen bespannt vor der Türe. Ter Wendlehner bestieg ihn nicht ohneMühe und als er auf den Sitz uiedersank, sagte er ruhig: „In die Kreisstadt — Vorwärts!" Als der Wagen spät am Abend wieder in den Hof einfuhr, bemerkten die Knechte, daß der Bauer viel frischer vom Wagen stieg, als er ihn am Mor ­ gen bestiegen und daß der Ausdruck seines Gesichtes einen Zug der Be ­ friedigung zeigte. Sie konnten es kaum erwarten, bis Michel die Pferde ausgespannt und in den Stall zurück ­ geführt hatte. Dort umdrängten sie jenen mit Fragen über den Zweck der Fahrt. Mit geheimnisvollem Lächeln antwortete Michel nnr das eineWort: „Kreisgericht" - und überließ es den Fragern, sich das gewichtige Wort richtig zu deuten. Sie gaben sich auch alleMühe, das Richtige zu treffen. „ElHat seinen letzten Willen niedergelegt", meinte der eine. „Daran denkt der Bauer noch lange nicht", widersprach ein zweiter. „Eher, daß er sich aufs Ausgeding setzt und demMatthias — " EinGelächter unter ­ brach den Redenden. „Den Matthias? Eher verkauft er Haus und Hof. Und vielleicht, daß er so etwas beim Kreisgericht angegeben." Nach weiteren acht Tagen jedoch er ­ fuhren die Knechte und mit ihnen das ganzeDorf, daß derWendlehner nichts von alledem beim Gerichte gewollt, son ­ dern daß er eine Untersuchung wider den Förster verlangt hatte, den er des Mordes au seinem Sohn angeklagt. Und es war, als ob diese teilweise Befriedigung seiner Rachsucht dem Bauer die Kräfte wiedergegeben hätte, denn der waltete wieder in Haus und Hof wie früher. Doch — nicht so wie srüher. Er schaffte mehr als früher; mußte er doch seinen verlore ­ nen Sohn ersetzen. Dabei aber war er ­ fasst stumm und wies seine Befehle mehr, als er sie aussprach. Sein Gesicht blieb starr und nur einmal blitzte es wie anflodernder Feuerschein über dasselbe, als der Gerichtsbote die Vor ­ ladung zur Verhandlung ani Kreisgericht brachte. Wer die Scharen der Dorfleute die Straße zur Kreisstadt hinwandern ge ­ sehen, der hätte schwören können, es sei dort Jahrmarkt; denn daß heute jene Spannung sich lösen sollte, welche seit einiger Zeit das ganze Dorf ge ­ fesselt hielt, konnte ein Fremder kaum wissen. Der Wendlehner sah jedoch nicht, wie die Leute seines Torfes den Sockel und die Treppen des Gecichtsgebäudes besetzt hatten, er hörte die Bemerkun ­ gen nicht, welche hie und da in der Menge laut wurden, sein Auge und sein Ohr hatte er auf das Gesicht des Vorsitzenden gerichtet, als wollte er ­ den Eindruck erforschen, welchen die Worte des Försters, welcher eben sprach, auf jenen machten. Es waren schlichte Worte, welche der Förster sprach. Er richtete sie mehr an seinen ehemaligen Freund als an die Richter. Seine Augen waren feucht und nm seinen Mund lag ein Schmerzens-

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