Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1910

Enie Dorfgeschichte. I. er Bauer vom grünen Hof, TobiasWendlehuer, stand im Sonntagsanzug mitten in seiner groszen Stube und sah vor sich hin, als ob er etwas Vergesse ­ nem nachgrübelte. Er blickte irr alle Ecken der Stube und hinauf nach dem altersbraunen Gebälke der Decke, dann schüttelte er den Kopf, nahm seinen Stock aus der Nische neben dem bunt ­ bemalten Schranke hervor nnd ging hinaus. Er war alt geworden, der Wendlohner, plötzlich alt geworden, über Ge ­ bühr seiner Jahre. Zuerst war dies ein Geheimnis zwischen ihm und seinen Beinen, welche in letzterer Zeit von ihrem Gelenkslciden öfter bcimgesucht wurden, als ein reicher Mann von seinen armen, hungrigen Verwandten. Hierauf mußten auch die arbeitsge ­ wohnten Arme daran glauben nnd nun fing fein Gedächtnis auch an, ihn zu verlassen. - Er war alt geworden, der Bauer. Man konnte es deutlich daran sehen, wie er die wenigen Stufen in den Hof hinunterstieg, so schwerfällig, daß die Holzstufen unter der Last seines Trittes erdröhnten und sein ganzer Körper da ­ bei erzitterte, und wie er nun schwer auf seinen Stock gestützt quer über den Hof ging. Er öffnete die Stalltüre, warf einen prüfenden Blick hinein und schloß sie wieder, rüttelte dann an dem Schlosse der Scheunentüre, ob diese wohl versperrt sei, und ging dann den Weg zurück zum Hoftor hinaus und, ohne den jungen Burschen, welcher vor dem Tore stand, auch nur eines Blickes zu würdigen, die Dorfgasse hinauf. Vom Wirtshause her ertönte Heller, fröhlicher Lärm, und als der Wendlehner durch den Flur desselben in den ! Garten hinter dein Hause hinaustrat, ! sah er, daß die roden Holzbänke rings ­ umher alle dicht besetzt waren, nur ein Tisch in der Nähe der Gartentüre war leer, vielleicht weil kein Baum ihn vor den sengenden Strahlen der Sommersonne schützte. Der Bauer ging lang ­ sam auf den Tisch zu und bemerkte es nicht, daß die Stackettüre nun rasch ge ­ öffnet wurde und einMann im Jäger ­ anzuge sich wie ermüdet auf dieselbe Bankwarf, auf welche er sich eben lang ­ sam niederlasscn wollte. Da blickte der Bauer wie zufällig auf — ein dunkles Not überflog sein Gesicht und ein schreck ­ licher Haß sprühte aus seinen Augen auf den Neuangekommenen hin, als er von der Bank aufsprang und so rasch er es nur vermochte aus dem Garten in das Haus stürzte, während der Jäger ihn: mit wehmütigen Blicken nach ­ schaute. Unweit davon um einen langen Tisch herum saß eine Schar von Burschen, Deren lautes Singen und Jauchzen plötzlich abbrach, als sie die Szene am Nachbartische gewahrten. In ihrer Mitte saß ein Bursche, dessen Stock und Mütze es deutlich verrieten, daß ihr Be ­ sitzer demMilitärstand angehörte, oder noch vor kurzem angehört habenmuhte. Dieser sah verwundert auf die plötzlich verstummten Genossen, und selbst ein wenig eingeschüchtert durch den Ernst, mit welchem diese in ihre Biergläser hincinblickten, fragte er seinen Nachbar leise: „Du, sepp, werwar denn das?" „Was? Den kennst du nicht? Ter Wendlehner-Tobias war's ja." „Der Wendlehuer?" schrie der Ur ­ lauber überrascht auf. „Das ist ja nicht möglich!" „Warum sollst' nicht möglich sein?" fragte der andere. „Zwei Jahr' sind's her, daß ich den Bauer nicht gesehen hab'. Kanu man sich in der Zeit so verändern?" fragte

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