Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1909

102 „Mein Weib, mein Kind!“ rief Gise¬ brecht entsetzt und eilte seiner Wohnung zu. Er fand die Tür weit offen und ahnte Unheil. Brandgeruch drang ihm entgegen und das Innere des Hauses bot ihm ein Bild greulicher Verwüstung, denn alles war zertrümmert und kurz und klein ge¬ schlagen. Gisebrecht durcheilte alle Räume, allein nirgends fand er Weib und Kind. In heller Verzweiflung wollte er aus dem Hause eilen, da erinnerte er sich, daß er ohne Waffen war. Er suchte hastig überall —ein awarisches Beil und ein herum Weidmesser war alles, was er fand, und froh über diesen Fund eilte er wieder in den Hof hinaus. Kein Aware war mehr zu sehen, ihr Vernichtungswerk war bereits vollendet. Beim Brunnen lag eine anscheinend leb¬ lose Gestalt am Boden — der Pferde¬ knecht war es, mit eingeschlagenem Schädel. Er fand noch viele seiner Leute erschlagen umherliegen, Greise und wehrfähige Männer, aber kein Weib und kein Kind befanden sich darunter ∆0 „Sankt Georg“, stöhnte der entsetzte Gisebrecht in tiefster Erregung, „die Awaren haben rasche Arbeit getan, die ganze An¬ iedlung brennt, alles, was wehrfähig war, ist erschlagen, Weiber und Kinder gefangen fortgeführt — Hildegard, Arnulf, wo ihr?“ seid Vergebens sann er auf einen Weg zur Rettung seiner Familie und sah dabei mit schwer atmender Brust in die Flammen, welche die Ansiedlung verzehrten. Krachend stürzten die Dächer in die leergebrannten Räume und der Sturmwind trug die Funken wirbelnd und sprühend durch den weiten Hof. „Nach Toducha“, sagte Gisebrecht, endlich sich ermannend „dort finde Rat, ob Hilfe? Gott allein weiß das! Und er trachtete mit heiler Haut aus den brennenden Gehöften zu kommen. III. Während sich droben in der Siedlung im ehemaligen römischen Castrum die unheilvollen Ereignisse vorbereiteten, hatten sich auf der kleinen Ennsinsel Samo und die beiden Wenden jzur Ruhe begeben nachdem sie vorher gar wichtige Beratung gepflogen und wichtige Entscheidungen zur Säuberung des Landes an der Enns und Steyr von den Awaren getroffen hatten Diese Entschlüsse zum Notkampfe gegen die Herren des Landes betrafen freilich den geringen Streitkräften angemessen daß derzeit einen geringen Raum daraus ein Riesenkampf entstehen sollte, aus dem heraus ein slawischer Gro߬ staat seine Gründung erfuhr konnten weder Samo noch die beiden Wenden ahnen, auch nicht, welche maßgebenden Rollen ihnen im Kampfe und im zu¬ künftigen Staate das Schicksal zuge¬ wiesen hatte. Als droben am Dreieck zwischen Enns und Steyr die Feuer in grausig=schönen Garben gen Himmel loderten, das Morden Rauben seinen entsetzlichen Höhepunkt er¬ reicht hatte, war es Zwentibold, dessen eines Ohr vom unbestimmten, dumpf so herabtönenden Lärm berührt wurde, daß er erwachte und, die Gefahr unwill¬ kürlich im Innern fühlend, das Auge forschend durch die Wipfel der Weiden gegen die Siedlung hinauf richtete. Sein Blick wurde starr und seine Mienen ver¬ zerrten sich im Entsetzen, als er die fürchterlichschöne Lohe gewahrte, die da oben zum Himmel schlug, und er stand erst wie gebannt ein Weilchen da. Aber er schüttelte sich auf und rasch sich bückend weckte er den fahrenden Handelsherrn und einen Bruder durch kräftiges Rütteln aus dem tiefen Schlafe „Was. gibt's, Freund Zwentibold?“ fragte Samo ungehalten über die Störung, die sein stärkender Schlaf erfuhr, während Ratibor seinen Bruder vorwurfsvoll an¬ sah und sanft meinte: „Du irrst, Bruder, es kann noch nicht früh sein! Beiden mit seinen Worten, die spru¬ delnd und hastig in großer Erregung sich seinen Lippen entrangen, antwortend, sagte Zwentibold fast leise nur das Wort: „Awaren! Hätte der Blitz neben ihnen einge¬ schlagen, konnten die Schläfer nicht schneller

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