Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1909

schiedensten Form und Größe aufgebaut und erhalten wie es eben das augen¬ blickliche Bedürfnis erheischte. Nur die Grundlage war noch dieselbe, ein läng¬ liches Viereck mit großem Hofe, das Ganze umgeben von einem breiten, tiefen Graben bis an die steilabfallenden Felsen an der Steyr. Der Sicherheit wegen hatte die ganze Siedlung nur einen Ein¬ gang, der auf die Hochfläche hinausführte und mit einem festen Tor und einer Zug¬ brücke versehen war. Einwohner zählte die Siedlung etwa hundert, meist Ackerbauer, rechnete man aber Greise, Weiber und Kinder ab, blieben kaum zwanzig waffenfähige Männer eine Zahl, welche zur Verteidigung des Platzes nicht ausreichte, zumal auch einige Awaren in der Siedlung sich befanden, auf deren Mithilfe nicht zu zählen war. Der Vorsteher dieses meist von Franken und Bayern bewohnten Platzes war ein Franke namens Gisebrecht, ein Riese von Gestalt, etliche dreißig Jahre alt, mit ruhigem, fast feinem Benehmen, in den Waffen geübt, ein guter, fleißiger Land¬ wirt, aber auch des Schreibens kundig, immer hilfsbereit und gutherzig gegen andere, weshalb er große Verehrung und Anhänglichkeit in der Siedlung genoß, ebenso wie seine fast gleichalterige Frau, die „schöne Hildegard“ genannt, die ihren Gatten jedoch an Lebhaftigkeit des Geistes und im raschen Entschlusse weit übertraf Sie hatten ein Kind, einen Knaben von etwa sieben Jahren, der bereits in der Siedlung geboren war und sich prächtig entwickelte, gut lernte und furchtlos die ausgedehnten Wälder durchstreifte, welche die Siedlung umgaben. Bei Sonnenuntergang saßen jetzt Gisebrecht und die Seinen unter dem weitästigen Nußbaume, welcher nahe beim Wartturme stand, beim Abendbrot, das einfach, aber kräftig bereitet war und zu dem sich Gisebrecht den Apfelmost trefflich munden ließ. Trotzdem herrschte Still¬ schweigen und Gisebrechts hohe Stirne zeigte krause Falten, ein Zeichen, daß er von Sorge erfüllt war und trübe Ge¬ danken hatte. Frau Hildegard beobachtete 101 besorgt ihren Gatten, denn sie verstand diese seine Stimmung recht gut und als echte Ansiedlersfrau wußte sie daher genau, daß wieder irgend eine Gefahr drohe. „Du bist sehr nachdenklich“ brach endlich Frau Hildegard das peinliche Schweigen, „befürchtest du etwas? „Leider, ja“, nickte ihr Gatte, „ich habe Nachricht, daß größere Abteilungen von Awaren hier herumstreichen, wie auch nicht? Die Ernte ist herinnen und wir haben die Aufnahme einer awarischen Besatzung vor einigen Tagen abgewiesen. Wird kein gutes Ende nehmen! Ich fürchte für dich und unseren lieben Arnulf! „Nicht doch“ meinte Frau Hildegard und legte ihre Hand auf den Arm ihres Gatten, „ich weiß die Waffen zu führen wie jeder Mann und Arnulf ist flüchtig wie ein Reh, wenn es gilt, den Awaren zu entrinnen — wir sollen dir keine Sorge machen!“ Gisebrecht seufzte leicht. „Gebe Gott, daß unsere Awaren hier im Hofe vernünftig bleiben und uns nicht verraten, dann fürchte ich nichts“, erwiderte er und brachte das Gespräch auf andere Dinge, bis alles sich zur Ruhe begab Auf den freundlichen Tag folgte eine recht unfreundliche Nacht, denn es erhob sich ein starker Wind und dunkles Gewölk verdeckte den Mond, so daß es tief finster war. Gegen Mitternacht gellte plötzlich der Entsetzensruf: „Feuer — die Awaren sind im Hofe!“ durch die Siedlung und Gisebrecht eilte aus seiner Schlafstube, um nachzusehen, was los sei. Zwei Scheuern brannten lichterloh und der Wind trieb die Flammen rasch hauf die Dächer der anderen Gebäude. Die An¬ siedler bemühten sich, dem Feuer Einhalt zu tun, aber plötzlich belebte sich der Hof mit Kriegern; wie aus der Erde entstiegen, so tauchten vom Tore her, von der Seite des Flusses, selbst auf den Dächern der ebenerdigen Gebäude awarische Krieger auf und stürzten unter wilden Rufen Keulen, Schwerter und Speere schwingend, sich auf die entsetzten, wehrlosen Ansiedler und metzelten nieder, was nicht mehr davoneilen konnte.

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