seinem Herzen wieder mächtig auf. Ist ihm nicht durch das Kind soviel Liebe zuteil geworden? Mehr als er verdient in seiner Lage. Er verspürt es. Gott meint es gut mit ihm, er wird gewiß weiter helfen. Und frohen Mutes geht er an die Arbeit, er will wenigstens diese Weihnachten fröhlich sein. Unterdessen ist Gabriele zu Hause angelangt. Das Herz droht ihr zu zer¬ springen ob des Elends, das sie gesehen. Was soll sie tun? Sie zermartert ihr Gehirn und findet keinen Ausweg. Fürs erste wird ihm durch die hundert Mark geholfen sein, sie will dann versuchen ihn zu unterstützen, ohne daß er es merkt. Gott sei Dank, daß er sie nicht erkannt hat. Er würde gewiß schreckliche Qualen ausstehen, wenn er wüßte, wer sie ist. Der Weihnachtsabend ist hereinge¬ brochen. Alle Räume der Villa von Rohenstein sind hell erleuchtet, und eine zahlreiche Dienerschaft eilt durch die Zimmer, denn es gibt noch gar viel zu tun. Im Saale stehen zwei mächtige Tannenbäume, voll des schönsten Kon¬ fekts, darunter eine große Tafel für Mariechen und die Dienerschaft. In den Nebenzimmern sind mehrere große Tische aufgestellt, welche die Geschenke für die armen Kinder fassen, die heute abends kommen werden. Die ersten kleinen Gäste stellen sich denn auch schon ein und werden von Mariechen herzlich begrüßt. Gabriele überläßt ihrem Kinde dies gern und freut sich über das gute Herz desselben. Wie ist sie froh, daß Hochmut noch nicht in dasselbe Eingang gefunden hat. Der Saal fullt sich immer mehr, auch Er¬ wachsene sind mitgekommen, so der Lehrer mit einigen Diakonissinnen, welche es sich nicht nehmen lassen wollten, an dem Glück ihrer Schützlinge teilzu¬ nehmen. Gabriele ist so glücklich, und doch ist ihr das Herz so schwer. Während die kleinen und großen Gäste an den Tafeln das dargebotene Abendessen einnehmen tiehlt sie sich hinaus in ihr Boudoir, 47 sinkt in die Knie und fleht zu Gott, er möge ihrem Herzen Ruhe verleihen, den welchen sie liebt, welcher ihr in den letzten zwei Tagen nicht aus den Gedanken ge¬ kommen ist, segnen, und ihm helfen in dieser Christnacht. Mit gefalteten Hän¬ den blickt sie zum Himmel empor, wie auf Antwort wartend, ob Gott ihr Flehen nicht erhören will. Plötzlich wird sie durch Lärm auf der Straße aufgeschreckt. Sie hört Stim¬ mengewirr und will zusehen, was passiert ist. Da bringt ihr ein Dienstmädchen auch schon einen Brief, welcher in der Türspalte gesteckt hatte und an sie adressiert ist. Ein hastiger Blick auf die Adresse genügt, um zu wissen, daß es von Rudolf ist, und nichts Gutes ahnend —Wenn er eilt sie vorwärts, hinab. sich etwas angetan hätte! Das durfte nicht sein, dies durfte Gott nicht zu¬ lassen, ihr diesen Schmerz bereiten. Unten angekommen, sieht sie Rudolf auf der Erde liegen, leblos, in der Hand Christrosen haltend. Sie möchte bei ihm niederknien, die Hand in der seinen haltend mit ihm sterben. Doch vor den Leuten beherrscht sie sich. Da man ratlos ist, wo man ihn hinschaffen soll, läß Gabriele ihn hinauftragen in ihre Woh¬ nung und im Zimmer ihres verstorbenen Gatten aufbetten, bis der hinzugerufene Doktor erscheint. Der ganze Vorgang ist von den übrigen unbemerkt geblieben, sie befiehlt auch, nichts davon verlauten zu lassen und die Festesfreude der Kleinen nicht zu stören. Der Arzt untersucht Rudolf und kann der unterdessen draußen bangen Herzens wartenden Gabriele endlich mitteilen, daß diesem nichts todbringendes passier ist. Der gesunde Fuß ist verstaucht, und da er den steifen schlecht gebrauchen kann, ist er zusammengebrochen und augenscheinlich infolge zu großer Auf¬ Die regung ohnmächtig geworden. Baronin läßt den Kranken bei sich und will eine der anwesenden Diakonissin¬ nen bitten, ihn während der Nacht zu pflegen.
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