Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1909

46 den Brief vor das Fenster zu legen, bringt das Kind dann selbst zu Bett und sitzt bis tief in die Nacht hinein am Schreibtisch, beschäftigt mit Vorarbeiten für das nahe Fest. Wie schön soll es werden! Ihr Herz wird froh und feuchten Blickes sieht sie zum Sternenhimmel empor, der ihr durch den Mund ihres Kindes den rechten Weg der Liebe ge¬ wiesen hat. Ja, das diesjährige Weihnachtsfest soll ein fröhliches werden. Arme Kinder will sie einladen und diesen in ihren Räumen mit Mariechen zusammen bescheren. Der Kinderjubel wird ihr gewiß über die Zeit hinweghelfen— sie darf diese Weihnachten gewiß nicht traurig sein und nicht weinen. Am andern Nachmittag macht sie sich tief verschleiert auf den Weg. Wie leicht fühlt sie sich! Was will sie doch alles ein¬ kaufen! Einen langen Zettel hat sie voll¬ geschrieben. Ihr erster Gang ist zu der Bude des Mannes. Ein Gespräch an einem der Stände in der unmittelbaren Nähe zwingt sie unwillkürlich, ihren Schritten Einhalt zu tun. Daraus geht hervor, daß der Mann sehr arm ist, am Morgen nicht einmal das Standgeld hat bezahlen können, so daß er schon Unannehmlich¬ keiten hatte. — Also so weit ist es schon mit dem Armen! Sie geht zu den Leuten hin, kauft eine Kleinigkeit und erkun¬ digt sich näher nach den Verhältnissen des Mannes. Man lobt ihn wegen seiner Rechtschaffenheit, zum Verkäufer sei er aber nicht geboren, er sei aus dem Aus¬ land herübergekommen mit einigen hundert Mark und wolle sein Leben hier fristen. Man munkelte, er sei früher etwas Höheres gewesen, habe bessere Zeiten gesehen, aber eines Mädchens wegen sei es wohl zum Duell gekommen, das ihm einen steifen Fuß eingebracht und seine Karriere gekostet habe. Man wisse aber nichts Näheres, denn er schweige beharrlich über seine Vergan¬ genheit. Das Herz stockte ihr plötzlich und fahle Blässe bedeckte ihr Gesicht. Sollte das — Rudolf v. Weiß sein? Doch nein! Hirngespinste! Ihm sollten ja beide Füße amputiert worden sein. Die Knie zitter¬ ten ihr, und mühsam schreitet sie weiter. Der Stand ist leer, hinten in der Ecke sitzt ein Mann, mit den Händen das Gesicht bedeckend, nichts regt sich. Sie wählt ruhig ihren Bedarf aus, ohne daß er etwas davon merkt. Schließlich dreht er sich zufällig um, springt sofort auf und bittet um Verzeihung, daß er sie nicht gesehen habe. Kaum hat sie ihn an¬ geblickt, so weiß sie, wen sie vor sich hat: — er ist es! Nur mühsam beherrscht sie sich, sie will, darf sich nicht erkennen lassen, wirft ihm hundert Mark hin und eilt fort, mit dem Bemerken, daß sie die Sachen abholen lassen wolle. Rudolf hat sie aber doch erkannt. Also so steht es mit ihm! Gabriele flieht ihn, natürlich, sie ist reich, glücklich und blickt wahrscheinlich mit Geringschätzung auf ihn herab.— Nein, nimmermehr! Almosen nimmt er denn doch nicht an, und sollte er verhungern. Er nimmt das Geld und wirft es in eine Ecke! Den Rest wird er dem Diener, welcher die Waren abholt, herausgeben. Ein Haß gegen die ganze Welt steigt in seinem Innern auf. Was bringt ihm das Leben, was hat es ihm gebracht? Aerger, Verdruß, Not, Elend. Dasselbe zu Ende machen? — Nein, feig ist er denn doch nicht! Er will es durchkosten, solang eine höhere Macht es bestimmt. Aus seinen Gedanken wird er durch eine Kinderstimme aufgeschreckt. Es ist Mariechen. „Ich bin zu Hause weggelaufen, um Ihnen, armer Mann, etwas zu bringen. Es ist Essen von heute Mittag; Suppe, Rehbraten, alles, was wir gegessen haben. Sie werden gewiß hungrig sein. Und dann möchte ich noch etwas für Mama kaufen, ich bringe mein Geld aus der Sparbüchse mit.“ Er weiß nicht, was er sagen soll, die Tränen stehen ihm in den Augen. Er kann Gabriele nicht mehr zürnen, des Kindes wegen, im Gegenteil: nach der ersten Aufregung lodert die alte Liebe in

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