Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1909

rend der Wagen nach dem Schlosse fuhr. Nein, sie, die er geliebt, mit der er sich verlobt, die er dann treulos verlassen! Warum? Weil sie eines Amtmannes Tochter, von bürgerlicher Herkunft, und seinem Fortkommen, seinem Hochsteigen, seinem Ehrgeiz hinderlich war, sie, die Gräfin Pell, von der er schon so viel ge¬ hört. Er konnte nicht weiter denken, denn der Wagen hielt vor dem Portal des Schlosses. Er stieg aus, die Wache trat ins Gewehr, war er doch nicht nur der allmächtige Minister, der Günstling des Herzogs, sondern überhaupt die erste Per¬ önlichkeit am kleinen Hofe des Herzogs. Letzterer empfing ihn überaus gütig und war hochbeglückt und erfreut über die günstige Wendung der politischen Er¬ eignisse seines kleinen Fürstentums. „Das danken wir Ihnen, meine liebe Exzellenz, und ich bin Ihnen für Ihre außerordentlichen Leistungen auf politi¬ schem Gebiete zugunsten meines Reiches zu größtem Danke verpflichtet.“ Er ging mit diesen Worten an seinen Schreibtisch, entnahm einem Fache des¬ selben ein Etui, das er lächelnd der er¬ staunten und hocherfreuten Exzellenz überreichte. Es enthielt die Brillanten des höchsten Ordens des Fürstentums, den Serenissimus schon besaß. Letzterer stattete seinen untertänigsten Dank ab, dann besprach der Fürst noch mehreres mit ihm, auch über den. Empfang des Grafen und der Gräfin Pell und über die Festlichkeiten zu Ehren derselben, worauf die Audienz zu Ende war. Auf dem Heimwege stand die schöne Gräfin wieder im Vordergrund von Serenissimus Gedanken. Vergangene Zeiten standen lebhaft vor seinen Augen. Er sah sich als Student in Heidelberg, der reben= und sagenumwobenen alten Neckarstadt. Bei einem Ausflug in die nahe Umgebung sah er einst im Städt¬ chen L. die wahrhaft bildschöne Tochter des dortigen Amtmannes, verliebte sich sterblich in sie und fand Gegenliebe, denn zu damaliger Zeit war er ein schmucker Bursche. Niemand würde in dem stark untersetzten, wohlbeleibten Herrn von 39 heute den damaligen schneidigen Stu¬ denten erkannt haben. Die beiden liebten sich, er schwur ihr ewige Treue, als er an die Universität abging und Heidel¬ berg verließ, um sie nach kurzer Zeit zu vergessen. In der Hauptstadt des Fürstentums wurde er bald, nachdem er sein Assessorexamen glänzend bestanden, in den Strudel der Geselligkeit gerissen. Bald hatten auch seine Eltern eine Braut ür ihn ausgesucht. Er weigerte sich nicht sie zu heiraten; hübsch war sie ja nicht, auch nicht hervorragend klug, etwas älter wie er, aber gut und sehr, sehr reich. Das paßte ihm, das war die Hauptsache. Nun stieg er schnell von Stufe zu Stufe, ver¬ tand es, sich das volle Vertrauen des Herzogs zu erringen, beherrschte den¬ selben vollständig, wurde erster Minister des Landes mit dem Titel Exzellenz und Serenissimus. So hieß er denn auch im ganzen Ländchen: die kleine Exzellenz oder Serenissimus. Beliebt war er nicht, man sagte ihm viel Eigennutz und Herrschsucht nach, aber er war auch nicht gehaßt, denn er hatte auch viel für des Landes Wohlfahrt getan. Durch das Bündnis mit dem mächtigen Nachbar¬ staat, das durch den bevorstehenden Be¬ such des Botschafters Grafen Pell seine volle Bestätigung erhalten sollte, war er auf den höchsten Gipfel der Macht doch gestiegen. Ihm schwindelte fast — daran dachte er jetzt nicht; vor seinen Augen stand die schöne Eva, die jetzige Gräfin Pell, mit den süßen, berückenden Augen und ein heißes, längstvergessenes Gefühl wallte mächtig in ihm auf. Nun, warum denn nicht. Acht Tage waren für den Besuch des gräflichen Ehepaares vor¬ gesehen, warum sollte er diese acht Tage nicht benutzen, und die alte Liebe in ihrem Herzen wachrufen? Er war ja ihre erste Liebe gewesen und eine erste Liebe vergißt eine Frau nie, argumentierte er. Ein Liebesglück, wenn auch nur acht Tage! Er hatte ja immer Glück, warum ollte er es hier bei der angebeteten Frau nicht haben? Graf und Gräfin Pell waren ange¬ kommen. Serenissimus und Gattin hatten

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