Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1909

16 zurückgekehrt, er blickt mich an, ohne mich zu erkennen. „Und du bist allein bei ihm gewesen?“ fragte Lüders weiter Heinrich nickte bejahend mit dem Kopfe. □ „Ich werde dir Hilfe schicken“ fuhr Lüders fort. „Du mußt Ruhe haben und darfst dich nicht aufreiben. Ich würde dich gern selbst ablösen, allein dein Vater möchte mich erkennen. „Nein — nein!“ fiel Heinrich ein. „Laßt mich allein, ich fühle keine Er¬ müdung. Ich befürchte, daß er es nicht überwinden wird, da soll ihn wenigstens keine andere Hand pflegen als die meinige.“ Lüders drückte ihm die Hand. Er be¬ griff das versöhnende Gefühl, das aus diesem Wunsche sprach. „Heinrich“ sprach er. „Es ist ein wun¬ derbares Geschick, daß der Baum, an dem er mit so starrem Eigensinn hing, der ihm bereits so viel Kummer bereitet hat, nun vielleicht auch seinen Tod her¬ beiführt! Hätte er geduldet, daß derselbe gefällt worden wäre, er hätte nicht nötig gehabt, zum Gericht zu gehen, er würde über die Wurzel nicht gestolpert sein.“ Dieselben Gedanken hatten Heinrich während der Nacht beschäftigt. „Er ist an ihm zugrunde gegangen, erwiderte er, das Auge erschüttert auf den Boden geheftet. „Es ist ein Fingerzeig, daß wir Men¬ schen versöhnlich sein sollen“ fuhr Lüders fort. „Ich grolle ihm nicht mehr denn ich weiß, daß jeder Trotz gebrochen werden kann. Heinrich pflegte auch den Tag über den Kranken, dessen Zustand keine Besse¬ rung verriet, allein, er wollte keine Hilfe, denn noch fühlte er keine Er¬ müdung. Zum zweiten Male brach der Abend herein, da schlüpfte Marie in das Zim¬ mer, wie ein Lichtblick erschien sie Hein¬ rich nach den schweren und trüben Stunden. „Ich bleibe hier“, sprach sie flüsternd, als Heinrich ihr entgegeneilte und ihre Hand erfaßte. „Ich werde deinen Vater pflegen und dich ablösen, damit du ruhen kannst.“ Heinrich sträubte sich dagegen, sie bat indes so innig und blickte ihn so bittend an, daß er endlich nachgab. „Und wenn mein Vater zum Bewußt¬ sein kommt und dich erkennt?“ warf er indes besorgt ein. „Dann rufe ich dich sofort!“ entgeg¬ nete Marie. „Der Arzt glaubt jedoch, daß noch Tage hingehen könnten ehe er wieder jemand erkennen würde. Nur kurze Zeit gönnte Heinrich sich Ruhe. Das mit der hereinbrechenden Nacht sich steigernde Fieber und die lauten, unruhigen Phantasien des Kran¬ ken weckten ihn wieder, und gemeinsam mit Marie pflegte er den Verwundeten. Kerstens Gedanken beschäftigten sich unablassig mit dem Baume, mit dem Ge¬ fängnis und mit dem Manne, den er am meisten haßte, mit Mariens Vater. Wilde Drohungen stieß er gegen den¬ elben aus. Es war Heinrich schmerzlich daß Marie dieselben hörte, beruhigend sah sie ihn indes an. „Er weiß ja nicht, was er spricht“, be¬ merkte sie, „und ich weiß ohnehin, daß er meinen Vater seit Jahren haßt.“ Länger als acht Tage währte der be¬ wußtlose Zustand Kerstens und uner¬ müdlich pflegten den Kranken Heinrich und Marie, welche einander ablösten. Der Arzt hatte ihnen Hoffnung gemacht daß der Kranke genesen werde und das Fieber desselben war in der Tat von Tag zu Tag geringer geworden. Ruhig lag er da, die Augen geschlossen wie ein Schlafender. Heinrich saß allein an seinem Bette. Es war still in dem Zimmer und auf dem Hofe. Die sich neigende Sonne warf einen freundlichen goldigen Schein in das Zimmer, wie ein Hauch des Friedens wehte es durch den Baum hin. Der Kranke schien ruhig zu schlafen, gleichmäßig holte seine Brust Atem, die Röte seiner Wangen war gewichen. End¬ lich rührte er sich und schlug die Augen auf, sein Blick war klar und ruhig.

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