Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1909

einen Boten nach der Stadt, um den Arzt zu holen; das Unglück seines Feindes ließ ihn jeden Groll vergessen. Heinrich eilte ohne Zögern zu seinem Vater. Der Arzt kam, untersuchte die Wunde und schüttelte bedenklich mit dem Kopfe. „Ist Gefahr vorhanden?“ fragte Heinrich. „Ja“, gab der Arzt zur Antwort. „Ich darf es Euch nicht verhehlen. Noch gebe ich indes die Hoffnung, ihn zu retten, nicht auf.“ „Es soll alles zu seiner Pflege ge¬ schehen!“ rief Heinrich. Der Arzt verordnete kühlende Um¬ schläge und ein beruhigendes Mittel. „Es wird sich wahrscheinlich ein hef¬ tiges Wundfieber einstellen“, sprach er. □ „Tragt Sorge, daß er nicht allein bleibt. „Wird er denn nicht zum Bewußtsein zurückkehren?“ fragte Heinrich Der Arzt zuckte halb ausweichend mit der Schulter. „Es können Tage darüber hingehen“ erwiderte er. „Davon hängt seine Ret¬ tung indes nicht ab, sorgt nur dafür, daß die Umschläge oft genug wiederholt werden!“ Heinrich versprach es. Er blieb allein bei dem Kranken, der in sein Bett gebracht war und mit schwer atmender Brust regungslos dalag. Ker¬ stens alte Wirtschafterin war über den Unfall so heftig erschreckt, daß sie selbst erkrankt war und sich ins Bett gelegt hatte. Der Abend und die Nacht brach herein, der Kranke war unruhiger ge¬ worden. Seine Wangen hatten sich ge¬ rötet, ein sicheres Zeichen, daß das Wundfieber sich bereits eingestellt hatte. Seine Augen waren geöffnet und blickten starr auf Heinrich, ohne daß sie ihn er¬ kannten. „Ich will nicht ins Gefängnis!“ rief er laut im Fieberwahn, indem er sich gewaltsam emporrichtete. „Bin ich ein Verbrecher! Wie kalt es in dem Gefäng¬ nis ist, die Decke desselben sinkt auf mich herab, ich ersticke — Hilfe! Hilfe!“ 15 Mit Mühe drängte Heinrich seinen Vater auf das Lager zurück. Erst aus diesen Worten erfuhr er, daß sein Vater für die Mißhandlung des Arbeiters mit Gefängnis bestraft war. Nun begriff er, weshalb derselbe sich berauscht hatte die Verzweiflung hatte ihn dazu ge¬ trieben. Sein Vater hatte ihn so tief gekränkt, dennoch erfüllten ihn die von Angst verzerrten Züge des Kranken mit Mitleid. Er erfaßte nun die Hand seines Vaters, als ob er ihm dadurch Beruhi¬ gung bringen könnte. „Fort — fort von dem Baume!“ fuhr der Kranke in seinen Fieberphantasien fort. „Sie wollen ihn fällen gebt mir — mit einen Stock — einen Stock meinem Leben will ich ihn — hahaha!“ Seine Hand fuhr wild suchend in der Luft umher. Draußen fuhr der Wind heulend die Straße entlang, und die Zweige des Baumes, welcher die Phantasie des Ver¬ wundeten unablässig beschäftigte, schlugen an das Fenster, als ob sie den Ruf des Kranken gehört hätten und darauf Ant¬ wort geben wollten. Ein unheimliches Gefühl erfaßte Hein¬ rich. Das mattbrennende Licht erhellte das Zimmer nur spärlich, es war, als ob Schatten durch dasselbe hinhuschten, die Blätter rauschten durch das Fenster, grinsende Gesichter schienen durch die¬ selben zu blicken und dazu der starre glühende Blick des Kranken. Trotzdem hielt Heinrich unerschrocken aus, er empfand keine Müdigkeit, als indes endlich der Tag zu dämmern an¬ fing und das neue Licht in das Zimmer schimmerte atmete er erleichtert auf. Auch der Kranke war etwas ruhiger ge¬ worden, obschon sein Bewußtsein noch nicht zurückgekehrt war. Lüders trat am Morgen leise in das Zimmer, der Kranke konnte ihn nicht ehen. „Was macht dein Vater?“ fragte er flüsternd. „Er hat eine schlimme — schlimme Nacht gehabt!“ gab Heinrich zur Ant¬ wort. „Noch ist sein Bewußtsein nicht

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