6 sich mit der Angst der Verzweiflung am Fenster hielt und kaum noch zu wissen chien, was um sie vorging. „Marie, Marie, komm, umfasse mich! rief Heinrich. Erst jetzt schien die Bedrohte ihn zu sehen und zu erkennen. Mit beiden Armen umklammerte sie seinen Hals. Heinrich hob sie aus dem Fenster, und sie fest an sich pressend stieg er die Leiter mit ihr hinab. Mit banger Spannung lblickten alle auf ihn, der Atem stockte in mancher Brust, denn noch war sein Rettungs¬ werk nicht beendet, die nächste Sekunde konnte es vernichten. Als Heinrich indes die letzten Stufen der Leiter erreicht hatte, erschallte der Ruf: „Gerettet! Ge¬ rettet!“ von vielen Stimmen zugleich und zahlreiche Hände streckten sich ihm entgegen, um ihm Beistand zu leisten. Er bedurfte derselben nicht mehr. Hatte die Anstrengung und Größe der Gefahr auch das Blut aus seinen Wangen ge¬ trieben, so besaß er doch noch Kraft ge¬ nug, die Gerettete in Sicherheit zu bringen. Es war die höchste Zeit, denn kaum war er zwanzig Schritte von dem bren¬ nenden Hause entfernt, so brach dasselbe mit lautem Krachen zusammen. Hochauf loderten die Flammen und der Wind trieb die Funken weit hin durch die dunkle Nacht. In den Garten, wohin die geretteten Sachen gebracht waren, trug Heinrich Marie. Noch immer hielt sie seinen Hals umklammert, und er empfand die leichte Last kaum; er fühlte das rasche Pochen ihres Herzens, welches so nahe dem seini¬ gen ruhte, und es war ihm, als habe er sie für sich gerettet und sie gehöre nun ihm für das ganze Leben. „Du hast mir das Leben gerettet!“ prach Marie, als er sie in den Garten niederlegte. „Du hast dein eigenes Leben für mich eingesetzt!“ „Ich würde es hundertmal mit der¬ selben Freude tun!“ rief Heinrich und blickte der Geretteten in die großen Augen. Zwei Herzen können sich finden, ohne daß ein Wort der Liebe über die Lippen kommt, stillschweigend ist ein Bund für das ganze Leben geschlossen, und selten ist eine Macht stark genug, sie wieder zu trennen. So war es hier. Lüders eilte herbei und schloß sein Kind, welches er schon verloren geglaubt hatte, in die Arme, dann erfaßte er Heinrichs Hand. Der Sohn seines Fein¬ — des hatte seine Tochter gerettet es war hm unmöglich, auszudrücken, was er in diesem Augenblick empfand. „Heinrich,“ sprach er endlich mit be¬ wegter Stimme, „wir sind Feinde ge¬ wesen, allein von dieser Stunde an sollst du keinen treueren Freund haben als mich, wenn du meine Freundschaft nicht zurückweisest.“ „Ich bin nie Euer Feind gewesen laßt das Vergangene vergessen sein", entgegnete Heinrich und drückte des Mannes Hand. „Es soll vergessen sein!“ rief Lüders. Das Haus war niedergebrannt, die Flammen hatten bereits die Stallgebäude erfaßt und wüteten weiter. Jetzt, wo es zu spät war, sahen die meisten die ver¬ kehrten Anordnungen ein. Als der Mor¬ gen hereinbrach, war das Gehöft des Bauers Lüders nicht mehr als ein rauchender Trümmerhaufen. Gebeugt tand Lüders in dem Garten, und sein Auge ruhte auf dem Schutthaufen, der die Stätte bedeckte, an der er geboren war, wor er so manches Jahr hindurch mit seiner Familie Freud und Leid ge¬ teilt hatte. Es war ein schwerer Schlag, der ihn betroffen, die Frucht der Arbeit von manchen Jahren war in den wenigen Stunden durch die Flammen vernichtet, und doch mußte er dankbar sein, daß wenigstens das Leben seines Kindes ge¬ rettet war, denn das Verlorene konnte er wieder erringen. Heinrich war zu seinem Vater zurück¬ gekehrt, derselbe empfing ihn schweigend mit finsterm Blicke. Aus seinen Augen leuchtete der Vorwurf, daß Heinrich ihn
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