Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1908

92 Nachdem der König Alfonso Ende August 1906 das Dekret betreffend die Einführung der obliga¬ torischen Zivilehe unterzeichnet hatte, wurde am 1. März 1907 mittels königl. Verordnung über Andringen der Bischöfe der Erlaß vom 27. August 1906, der die Zivilehe ohne das von den Ehe¬ leuten abzugebende Religionsbekenntnis an¬ erkannte, wieder aufgehoben. Ansätze zu einem Kulturkampfe (Unterwerfung der Kongregationen unter die staatliche Genehmigung 2c.), die sich unter den liberalen Kabinetten gezeigt hatten, verflüchtigten sich in der konservativen Aera bald wieder. Vortugal. Diktatorisch=autokratische Velleitäten des Königs und der durch die Suspendierung der Verfassung eingeleitete Versuch des Premiers Joao Franco, gegen, oder besser gesagt, ohne Parlament zu re¬ gieren, haben in der zweiten Hälfte der Berichts¬ periode und besonders gegen Schluß der letzteren die Lage in Portugal zu einer höchst kritischen und selbst für die regierende Dynastie Koburg gefährlichen gestaltet. Es handelt sich um eine immer mehr wachsende Erregung der gesamten portugiesischen Gesellschaft gegen den König und sein Haus, eine Erregung, die bereits hie und da auch zu Revolten und Pronunciamentos des Heeres geführt hat. Es wurde dem König Carlos I. vorgeworfen, daß er den ganzen Staat korrumpiere, daß er mit den Staatsgeldern wie ein Sultan schalte u. s. w. Und mit der allge¬ meinen Erregung wuchs das Ansehen einerseits der Republikaner, anderseits der legitimistischer Anhänger der bis zum Jahre 1834 in Portugal regierenden männlichen Linie des Hauses Braganza — der nationalen Dynastie, die der¬ zeit in dem auf Schloß Sebenstein in Niederöster¬ reich residierenden Herzog Miguel von Braganza ihren nächsten Thronanwärter hat. Wohin die Staats= und Dynastiekrise führen wird, ist zur Stunde, da wir unseren Bericht schließen, noch nicht abzusehen. Holland. Am 15. Juni 1907 wurde im Haag die von Rußland angeregte II. Friedenskonferenz er¬ öffnet, in die England mit einem Abrüstungs¬ vorschlage schon von vornherein den Erisapfel ge¬ schleudert hatte. Die praktischen Ergebnisse der Ver¬ bis 30. Juni noch nicht abgeschlossenen handlungen der Konferenz dürften nach dembis¬ herigen Verlaufe derselben wieder gleich Null sein. — Am 14. Juli 1906 wurde in Leyden aus Anlaß der Feier der 300. Wiederkehr des Ge¬ burtstages Rembrandts (geb. 15. Juli 1606 in Leyden) ein Denkmal des großen nieder¬ ländischen Meisters der Farbe und Radierers enthüllt. — Am 21. Februar 1907 scheiterte bei wütendem Sturme an der holländischen Küste, in unmittelbarer Nähe des Hafens von Hoek van Holland, und zwar an der Nordmole dieses Hafens selbst, der holländische Dampfer „Berlin“ der auch einen Teil der aus London zurückkehrenden Mitglieder der unter der Leitung van Dycks im Londoner Covent=Garden=Theater zu einem Gast¬ spiel vereinigt gewesenen deutschen Operngesell schaft an Bord hatte. Viele — man sprach von über 100 Personen — fanden bei der Katastrophe ihren Tod, so manche wieder mußten in banger Todesangst stunden= ja tagelang (vom 21. Februar 5 Uhr morgens bis zum Nachmittage des 22. Februar, einzelne sogar bis zum 23. Februar um 3 Uhr morgens) im Angesichte des Hafens auf dem in der Mitte entzwei geschnittenen sin¬ kenden Schiffe ihrer Rettung entgegenharren, da der tobende Orkan und wüstes Schneegestöber das Nahen von Rettungsbooten so lange verhinderte. Belgien. Am 4. August 1906 genas Prinzessin Elisabeth, geborene Herzogin von Bayern, die Gemahlin des belgischen Thronfolgers Prinz Am 12. April 1907 Albert, einer Prinzessin. — gab das Kabinett Graf de Smet de Naeger wegen einer das Gesetz über die Ar¬ beitszeit in den Gruben betreffenden Differenz mit der Kammer seine Demission. Es folgte ein Kabinett De Trooz. — Am 24. August 1906 starb in Paris Alfred Stevens, der hervor¬ ragendste zeitgenössische Maler Belgiens, im Alter von 83 Jahren. Balkanstaaten. Rumänien ward im März 1907 von einer schweren agrarischen Krise heimgesucht. In der ersten Dekade dieses Monats zeigten sich in aller¬ hand Unruhen in ländlichen Bezirken die ersten Anzeichen dieser Krise, die dann zunächst in der Moldau, dann aber auch in der Walachei zu immer blutigeren Bauernrevolten, Plünderungen, Brandlegungen und schließlich zu Metzeleien führte, jedoch in ihren revolutionären Aus¬

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