Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1908

90 Nun einige Details zu dem oben in großen Zügen geschilderten Milieu des russischen Kon¬ titutionalismus. Am 19. Juli 1906 bereits konnte die „Kölnische Zeitung“ nach offiziellen Daten melden, daß bis dahin sechs Garderegi¬ menter — darunter in Petersburg das sogenannte „Bataillon Sr. Majestät“ nämlich das I. Batail lon des Preobraschenskischen Garderegiments 29 Artillerieregimenter, mehrere Kosakenregimen¬ ter und fünf Sappeurbataillons gemeutert hatten. In der Berichtsperiode selbst brachen Meutereien aus in Peterhof, Brest=Litowsk, Poltawa, Svea¬ borg — woselbst die Festung durch einige Tage in der Hand der Meuterer war — Kronstadt, Helsingfors, Sebastopol, Reval, im Artillerie¬ lager Rimbertow bei Warschau, in Odessa, Zars¬ koje=Selo — hier meuterte das Leibgarde¬ Husarenregiment — Tendra und Kiew. Streiks größeren Stils brachen in derselben Epoche aus in: Petersburg, Odessa, Moskau. Ermordet wur¬ den in der gleichen Zeit: Admiral Tschuchnin, General Kozlow und General Minu — beide in Peterhof, der Residenz des Zaren —General Markgrafski, Oberst Alexandrow, Admiral Bek¬ lemytschew, der Gouverneur von Samara, Ge¬ neral Vonljanliarsky, Gouverneur Starynkje¬ witsch, General Polkowinkow, General Golost¬ schapow, Graf Alexis Ignatiew, der Stadthaupt¬ mann von Petersburg, Obermilitärprokurator Pawlow, Polizeimeister Brschesniowski, der Ge¬ heimpolizeichef von Warschau Viktor Gruen, der Gouverneur von Pensa Alexandrowski, der Ge¬ fängnisdirektor von Odessa Sakharuek, der Chef der Militärverwaltung in Siedlee und General Ulyanin. Man sieht, die Liste ist lang, aber ebensowenig wie jene der Meutereien vollständig. Uebrigens entging Stolypin selbst bei einem am 25. August 1906 verübten Bombenattentat in seiner eigenen Villa, durch welches 28 Personen getötet und 23 — darunter zwei Kinder des Mi¬ nisterpräsidenten — schwer verletzt wurden, nur durch Zufall dem Tode. — Mitte August 1906 gab es wahre Blutbäder in Warschau und Lodz, Mitte September einen blutigen Pogrom in Siedlce. — Im Monat Juli 1906 wütete der Bürgerkrieg zwischen Armenier und Tartaren in Kaukasien, wobei auch Artillerie in Aktion trat. —. Im Jänner 1907 desertierte ein ganzes Kosakenregiment unter Mitnahme von Schnell¬ feuergeschützen. — Am 17. Juni mußten 700 Mann der Kriegsflotte in Odessa wegen Unver¬ lößlichkeit und Unruhen verhaftet werden. Am 7. September 1906 meldete die „Frank¬ furter Zeitung“, daß nach einer Statistik des russischen Justizministers in den letzten acht Mo¬ naten 665 Personen in Rußland standrechtlich erschossen wurden. —Binnen 14 Tagen allein wurden Ende August 1906 und anfangs Sep tember in Rußland über 3000 Verhaftungen po¬ litischer Natur vollzogen. — Die Blätter wußten auch von verschiedenen Attentatsversuchen auf den Zaren zu berichten; ob solche Nachrichten den Tatsachen entsprachen oder nur den Vorwand zu blutigen Repressionsmaßnahmen bilden sollten, läßt sich bei den derzeit in Rußland herrschenden Zuständen nicht klarstellen. —Im Monat Juli 1906 wurde gegen den „Helden“ von Port Arthur, General Stössel, vom Kriegsgerichte die Anklage wegen der angeblich gar nicht notwen¬ digen Uebergabe jener Festung an die Japaner erhoben und dann auch bei dem neugeschaffenen Obersten Militärgerichte beantragt, wider Stößel wohl zum Trost für die vielen Niederlagen des russischen Heeres — die Todesstrafe zu ver¬ hängen. Eine definitive Entscheidung ist bisher nicht erfolgt. Konteradmiral Nebogatow wurde, weil er in der für die Russen so unglück¬ lichen Seeschlacht in der Tsushimastraße einige ohnedem verlorene Schiffe, um unnützes weiteres Blutvergießen zu verhindern, den Japanern über¬ gab — wohl wieder zum Troste für die Ver¬ nichtung der russischen Flotte — am 24. De¬ zember 1906 vom Kriegsgerichte zum Tode ver¬ urteilt, aber natürlich begnadigt, und zwar zu 10 Jahren Festungshaft. Dafür aber wurde der russische „Seeheld“ Rosch destwensky vom Marinegerichte freigesprochen. In der russischen Kapelle des Palais Edinburg in Koburg fand am 3. März 1907 die Taufe einer neugeborenen Tochter des Großfürsten Cyrill statt, die den Namen Marie erhielt. Am 15. Juni 1907 fand in Petersburg die Verlobung der am 6. April 1890 geborenen Großfürstin Maria Paolowna mit dem am 17. Juni 1884 geborenen Pinzen Wilhelm von Schweden, dem zweiten Sohne des Kronprinzen Gustav Adolf von Schweden, statt. — Am 15. September 1906 verschied in Peterhof Palast¬ kommandant General Trepow infolge eines Schlaganfalles, nachdem er kurz vorher wegen angeblich liberaler Velleitäten noch in Ungnade gesollen war. Mit ihm und dem im Jahre 1827 zu Moskau geborenen und am 23. März 1907 in Petersburg gestorbenen früheren Oberproku¬

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