Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1908

70 teriums Gautsch, die das Ministerium Beck in ein Programm aufgenommen hatte, die aber im Laufe der verschiedenen Kompromißverhand¬ lungen manche Modifikation erfahren mußte. Diese Verhandlungen galten hauptsächlich der Zahl der Mandate, respektive der Mandatsauf¬ besonders in Böhmen und Mähren teilung — — der Wahlkreiseinteilung und dem Verhält¬ nisse des deutsch=romanischen und des slawischen Blocks. Sie wurden insgesamt zu einem allseitig akzeptierten Ende geführt. Die Bedenken des Herrenhauses gegen die Wahlreform wurden da¬ durch beseitigt, daß man seinen Wünschen nach Einführung des numerus clausus für das Herrenhaus, durch welchen dessen Charakter als tabiles Element gegenüber dem fluktuierenden Elemente des Abgeordnetenhauses für die Zu¬ kunft gewahrt werden sollte, durch Einbringung eines diesfälligen Gesetzes und Schaffung eines Junktims zwischen diesem Gesetze und den die eigentliche Wahlreform betreffenden Gesetzen ent¬ sprach, so daß diese Gesetze vereint den Komplex der den Umbau respektive die Rekonstruierung der parlamentarischen Körperschaften Oesterreichs be¬ treffenden legislatorischen Arbeit bedeuten. Die Wahlreformvorlage wurde am 1. Dezem¬ ber 1906 im Abgeordnetenhause mit 194 gegen 63 Stimmen in dritter Lesung angenommen. Nachdem die Regierung am 14. Dezember 1906 im Herrenhause die Vorlage eingebracht hatte, wodurch die Zahl der lebenslänglichen Mitglie¬ der dieses Hauses auf 180 begrenzt und so den jeweiligen Regierungen die Möglichkeit entzogen oder doch verringert wird, durch Pairsschübe die Verhältnisse der Parteien in diesem Hause will¬ kürlich zu verschieben und die politische Zusam¬ mensetzung desselben den Bedürfnissen des Augenblicks anzupassen; nachdem beide Häuser des Reichsrats diese Vorlage angenommen hatten, nahm auch das Herrenhaus in seiner Sitzung vom 21. Jänner 1907 den noch der Erledigung durch diese Körperschaft harrenden Rest der die Wahlreform betreffenden Vorlagen an. Damit hatte für das alte Kurienparlament, den Reichsrat der Interessenvertretungen, die Todesstunde ge¬ chlagen und am 28. Jänner 1907 trat denn auch das österreichische Abgeordnetenhaus alten Stiles zu seiner letzten Sitzung zusammen, wo¬ mit zugleich dessen XVII. Session zu Ende ging. Auf Grund der von den beiden Häusern des Reichsrates beschlossenen, vom Kaiser sanktionier¬ ten Wahlreformgesetze wurden am 19. Februar 1907 die Wahlen für das neue Abgeordneten¬ haus ausgeschrieben, und zwar die überwiegende Mehrzahl derselben auf den 14. Mai 1907, während als letzter Wahltag eventuell der 7. Juni 1907 bestimmt wurde, und zwar für die engeren Wahlen einiger Wahlbezirke Ga¬ liziens, dessen Abgeordnete im alten Abgeord¬ netenhause für ihr Land ein eigenes Wahlsystem durchzusetzen vermocht hatten, welches der dort¬ selbst herrschenden Partei ihren Besitzstand nach Möglichkeit wahren sollte. Die Wahlen — für welche in einzelnen Kron¬ ländern, so in Niederösterreich, durch die betreffen¬ den Landtage der Wahlzwang eingeführt worden war — ergaben für das neue Abgeordnetenhaus ein unerwartetes Anwachsen der sozialdemokrati¬ schen Vertreter, welche — nach den Christlichsozia¬ len — die stärkste Partei im neuen Volkshause bilden. Die Einberufung des Reichsrates erfolgte durch kaiserliches Patent vom 8. Juni 1907 auf den 17. Juni 1907. Bei der Eröffnung des Parlaments fungierte der Abgeordneté Doktor Funke als Alterspräsident. In der Sitzung vom 25. Juni 1907 wurden dann der Christlich¬ soziale Dr. Weiskirchner zum Präsidenten, der Tscheche Dr. Zacek zum ersten und der Pole Dr. R. v. Starzynski zum zweiten Vizepräsidenten gewählt. Das neugewählte Abgeordneten=Volkshaus, das sich dieser Art ein entschieden klerikal ge¬ färbtes Präsidium gewählt hat, ist zu Beginn — seiner Tatigkeit kräftig in die Stufen seines Vorgängers älteren Systems getreten, und zwar dieses Vorgängers, wie er in seinen schlimmsten Zeiten der wilden Kämpfe und Arbeitsunlust war. Gleich die Wahl des zweiten Vizepräsiden¬ ten, Dr. R. v. Starzynski, wurde seitens der Ruthenen, welche in diesem Manne einen ihrer grimmigsten Feinde erblicken, mit dem Rufe: „Hanba! Hinaus mit ihm! Er hat sich mit Blut befleckt!“ seitens der Ruthenen und der Sozial¬ demokraten noch dazu mit stürmischen Protesten und auch mit Pultdeckelkonzerten begrüßt. Dann gab es Sprachenkonflikte und persönliche Reibereien, wüste Beschimpfungen, Miniatur=Obstruktionen und, als Novum, am 4. Juli 1907, einen ge¬ sungenen Protest der Ruthenen gegen eine Inter¬ pellation des Polenführers Dr. Dulemba; im mächtigen Chorale brausten da die ruthenische Nationalhymne „Noch ist die Ukraine nicht ver¬

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