Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1908

42 Dennoch verlor das ebenso schöne als charakterfeste Madchen nicht den Mut. Sie wußte, daß ihr Vater einen kleinen, gebrechlichen Kahn besaß, der zum Glück den Nachforschungen der feindlichen Späher entgangen war, da das unan¬ sehnliche Fahrzeug in einer unzugäng¬ lichen Bucht versteckt lag. Ihm wollte ie sich anvertrauen und nach dem Fest¬ land fahren, um die Hilfe der Deutschen für ihren Vater und die übrigen Gefan¬ genen anzuflehen, in der Hoffnung, daß sich die preußische Regierung für sie ver¬ wenden und ihre Auswechslung fordern und erlangen würde. Fast unüberwindliche Schwierigkeiten stellten sich jedoch bei näherer Ueber¬ legung dem gewagten Unternehmen ent¬ gegen. Es schien unmöglich, die Wach¬ amkeit der Dänen zu täuschen und durch das tückische Wattenmeer nach dem Fest¬ land zu gelangen, da alle Zeichen und Selbst der tüchtigste Baken fehlten. Schiffer wäre vor einer solchen Gefahr zurückgekehrt und hätte sich besonnen, auf einem zerbrechlichen Kahn, von der Insel Sylt die Fahrt nach dem Festland, ein solches Wagstück zu bestehen. Ihre kindliche Liebe siegte jedoch über alle Hindernisse und Gefahren. Ohne ihrer bekümmerten Mutter etwas von ihrem großen, unheimlichen Vorhaben zu verraten, bat sie um die Erlaubnis, das verlassene Vieh auf der ihrem Vater ge¬ hörigen Wiese in Begleitung der ihr treu ergebenen Magd aufsuchen zu dürfen. Dies wurde ihr zwar gestattet, aber ein dänischer Soldat ihr zur Beaufsichtigung mitgegeben. Mit diesem knüpfte das in ihre Pläne eingeweihte Mädchen eine zärtliche Unter¬ haltung an, die bald seine ganze Auf¬ merksamkeit in Anspruch nahm, so daß er nicht bemerkte, wie Inge zurückblieb und den Weg nach der verborgenen Bucht einschlug, wo sie den Kahn in sicherem Versteck fand. Während die chlaue Magd mit dem ergriff Inge das Ruder, Dänen schäkerte gewandt und kräftig zu welches sie so führen wußte, daß bald das Ufer vor ihren Blicken schwand. Gleich einer Nu߬ schale tanzte das kleine Fahrzeug mit der schönen Schifferin auf den schäumenden Wellen, die es zu verschlingen drohten, aber Inge verzagte nicht und vertraute auf Gott und ihre Kraft. Mehr als ein¬ mal wurde sie von der tückischen Strö¬ mung fortgerissen; rechts und links öffnete sich das Grab vor ihren Blicken aber sie verlor selbst in der größten Ge¬ fahr nicht die Besinnung. Mit über¬ menschlicher Anstrengung gelang es ihr immer wieder, bald den brausenden Wogen auszuweichen, bald einer verbor¬ genen Sandbank zu entgehen. Instinkt¬ mäßig fand sie trotz der weggenommenen Zeichen den richtigen Weg durch die end¬ lose Wasserwüste, die ihr nirgends einen Anhalt bot. Wenn zuweilen ihre Hand erlahmte und ein Gefühl von Schwäche sie übermannte, so dachte sie an ihren Vater, an den Geliebten, den sie in der Nähe zu finden hoffte. Neuer Mut durch¬ trömte ihre Glieder und wie ein Pfeil schoß das Schifflein durch die Wogen. Schon erblickte sie das nahe Festland, chon konnte sie die rettende Küste deut¬ lich unterscheiden, als das schwere Ruder ihren zitternden Händen entsank und sie elbst vor Erschöpfung sich einer Ohn¬ macht nahe fühlte. Wenn nicht eilige Hilfe kam, war die „Rose von Sylt“ verloren, von den Wellen verschlungen, ein Opfer ihrer kindlichen Liebe und Treue. Die Sinne vergingen ihr und mit geschlosse¬ nen Augen erwartete sie den unvermeid¬ lichen Tod. Als sie nach einiger Zeit aus ihrer sie zu tiefen Betäubung erwachte, glaubte träumen. Statt in dem Schlamm der Watten lag sie auf weichem Lager; über ihr gebeugt stand der treue Lorensen und und rings umher Offiziere, Lootsen Matrosen der deutschen Marine, welche voll Bewunderung die schöne, kühne Schifferin anstaunten. Ein herbeigerufe¬ ner Schiffsarzt reichte ihr in einem C Glase einen stärkenden Trank, durch den sie sich wunderbar gekräftigt fühlte. Wie sie jetzt aus dem Munde ihres Geliebten erfuhr, befand sie sich auf einem Schiff der vereinigten österrei¬

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2