36 Rauschen des Meeres zu lauschen, womit sich das steigende Wasser anzukündigen pflegt. Da alles still blieb, oder sein sonst so scharfes Ohr ihn täuschte, ging er be¬ ruhigt weiter. Als er aber an der Süd¬ westspitze des sogenannten Wadens stand, sah er, daß ihm bereits die Flut zuvorge¬ kommen war und ihm den Fußweg über das Watt versperrte. Er hatte daher keine andere Wahl, als entweder umzu¬ kehren und seinen Verfolgern in die Hände zu fallen, oder in dem tückischen Wattenmeer elend zu ertrinken. Wäh¬ rend er so verzweifelnd und ratlos in „ hochster Not stand und bereits das Jubel¬ geschrei seiner Feinde hörte, erblickte er ein liebliches Mädchen von achtzehn Jahren, welches auf einer Erhöhung des alten Seedeichs von Wadensoddesaß und emsig an einem Fischernetz strickte. Er erkannte sogleich die schöne Inge Möller, die Tochter eines wohlhabenden Schiffs¬ kapitäns aus Keitum, welche wegen ihrer großen Schönheit und Anmut allgemein nur „die Rose von Sylt“ genannt wurde Sie war von ihrem Vater ausgeschickt worden, um nach dem Vieh zu sehen, das hier im Freien weidete. Obgleich der wackere und stattliche Lorensen die holde Jungfrau wie alle Welt bewunderte und im stillen schon oft gewünscht hatte, ihr näher zu treten, so wagte er es doch nicht rüher, sie anzusprechen oder gar sich um ihre Hand zu bewerben, da er ein Frem¬ der war und deshalb wenig oder gar keine Hoffnung hegte, von der schönen Sylterin erhört zu werden, weil die Insulaner¬ innen nur selten einen anderen Mann als einen Eingeborenen heiraten. Er hatte sich daher damit begnügen müssen, sie von Zeit zu Zeit in der Kirche zu Keitum zu sehen und aus der Ferne ie zu grüßen, wobei er zu bemerken glaubte, daß sie jedesmal leicht errötete. Nur ein einziges Mal, als die Jugend der Insel das Petristuhlfest, eine Erinne¬ rung an die alten heidnischen Götter, feierte, und auf dem Wedeshügel, einer früheren Opferstätte, um das angezündete „Birkenfeuer“ tanzte, da war es auch ihm vergönnt, die liebliche Gestalt in seinen Armen zu halten und mit der schönen Inge in den Reihen der Tänzer zu schwe¬ ben, beleuchtet von den roten Flammen welche die „Rose von Sylt“ nur noch rosiger erglühen ließen, während sie an seinem hochklopfenden Herzen ruhte. Da¬ mals hätte er freilich, wenn er nicht zu¬ viel mit seinen eigenen Empfindungen be¬ schäftigt gewesen wäre, wahrnehmen kön¬ nen, daß er dem lieblichen Mädchen nicht gleichgiltig sei. Jetzt im Augenblick der höchsten Gefahr erschien sie ihm wie ein rettender Schutz¬ geist, wie ein vom Himmel ihm gesendeter Engel, dem er sein Mißgeschick mit rüh¬ renden Worten klagte. „Gibt es keine Hilfe?“ fragte er sie. „Kennst du keinen anderen Weg, auf dem ich meinen Verfolgern entgehen kann? Wenn du mir nicht beistehen kannst oder willst, so bin ich rettungslos verloren, da ich lieber ertrinke, als in die Hände der Dänen falle.“ „Da sei Gott dafür!“ erwiderte die chöne Inge, vom Mitleid ergriffen. „Aber was soll ich tun? „Nimm eins von den Pferden meines Vaters die hier weiden. Es wird dich sicher durch die Wellen tragen, wenn du 9 über die seichten Mündungendes Wadens= und Feuerkolk=Stiehls reitest.“ „Leider“, entgegnete Lorensen, „bin ich kein Eingeborener, der den Weg kennt. Ich fürchte, daß ich in eine Untiefe oder in den Schlick gerate und mitsamt dem Pferde ertrinke. „Das ist wahr,“ versetzte das ent¬ schlossene Mädchen, „aber du mußt um jeden Preis gerettet werden. Ich selbst will dich führen und das zweite Pferd be¬ steigen. Wir reiten zusammen über das Haff nach Steidum=Inge, von wo ich mit beiden Pferden leicht über die Wester¬ länder Wiesen nach Hause kommen kann. Mit Freuden nahm der bedrängte Lorensen den Vorschlag der schönen Inge an, und beide bestiegen, da keine Zeit zu verlieren war, die Pferde, und ritten über das Ufer der steigenden Flut entgegen Immer höher wuchs das Wasser und be¬ deckte das noch vor kurzer Zeit ganz trockene Watt; immer lauter und wilder rauschten die Wellen; immer gefährlicher
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