72 Schauplatz der Katastrophe — in ein Glutmeer verwandelt seien, daß die Flammen aus den Oeffnungen der Einsteigschächte emporschlugen, daß aufsteigende Gase den Zutritt zu den Schächten hindern, daß Rettungsversuche vor¬ läufig unmöglich seien, daß von den 1795 ein¬ gefahrenen Bergleuten nur 591 ausgefahren seien, somit 1204 dem im Innern der Erde wütenden Elemente preisgegeben seien und hier jeder Rettungsversuch vergeblich sei. Dann mel¬ dete man, daß 1193 Bergleute zweifellos den Tod gefunden haben, daß man damit vor der größten Grubenkatastrophe, die sich je ereignet hat, stehe. Dann hieß es, daß man sich doch, trotz aller Hindernisse und der Lebensgefahr, der sich die Arbeiter bei den Rettungswerken aus¬ setzen würden, zu weitgreifenden Rettungs¬ aktionen entschlossen habe; daß die Rettungs¬ mannschaften sich aber überzeugten, daß das Gros der eingefahrenen Arbeiter teils durch das Feuer, teils durch Einstürze den Tod gefunden haben mußte, daß neben wenigen Lebenden zu¬ meist nur Leichen und formlose, verkohlte Fleischmassen an die Oberfläche gebracht werden konnten. Und wieder meldete man, daß man die Rettungsarbeiten, weil keinen weiteren Erfolg versprechend und weil infolge der Entwicklung bösartiger Gase und der den Leichen entströmen¬ den Dünste eine unmittelbare Gefahr für die an den Rettungsarbeiten Beteiligten bestehe, die Ingenieure auch eine neuerliche Explosion be¬ fürchteten, wieder einstellte oder doch einstellen wollte; daß sich später deutsche Hilfsmannschaf¬ ten eingefunden, die — mit allem Nötigen glän¬ zend ausgerüstet — noch eine Reihe von Leichen heraufbefördert hätten. Dann aber kam das Entsetzlichste, die Meldung nämlich, daß am 30. März 1906 aus der Grube Nr. 3 in Ceur¬ rières 13 Bergleute lebend heraufgeschafft wur¬ den, die dort seit der Katastrophe — also durch eingeschlossen, lebendig begraben 21 Tage — gewesen und sich von Lebensmitteln der verun¬ glückten Kameraden und von Hafer, den sie im Pferdestalle gefunden, genährt hatten. Dem wilden Drängen der Angehörigen der Ver¬ schollenen nach neuen Rettungsversuchen folgend hatte man nach der Abreise der deutschen Hilfs¬ mannschaft neue Rettungsversuche durch fran¬ zösische Arbeiter unternommen. Mit der Löschung des Grubenbrandes Beauftragte waren an jenem Tage — dem 30. März —.gerade im Begriffe, auszufahren, als sie eine Gruppe von 13 ab¬ gezehrten Menschen, die sich nur mit Mühe weiterschleppen konnten, herankommen sahen. Ihr Führer, namens Nemy, sagte, daß sie von der Grube 3 in Mericourt kamen, wo sie mehr als 20 Tage eingeschlossen waren. Es waren Jammergestalten, wie lebende Leichname zu schauen, die da wieder zum Tageslichte, das sie nur schwer ertragen konnten, zurückkehrten. Sie wurden gleich einem vierzehnten, der erst 25 Tage nach Eintritt der Katastrophe lebendig seinen Grabe entsteigen konnte, Pierre Auguste Ber¬ ton, gerettet — aber nun erhob sich die gräßliche Frage — die, wie gesagt, nie beantwortet werden wird — wie viele andere, die mit jenen 14 tief unten in den Gruben lebendig begraben waren, hätten wohl gerettet werden können, wenn man energischer und geschickter zugegriffen hätte und nicht lieber aufs Retten verzichtet, als mit allen möglichen Mitteln ans Retten gedacht und für dasselbe gesorgt hätte? Und was diese Frage an Entsetzen birgt, wird wohl erst klar, wenn man bedenkt, daß die Zahl der Opfer von Courrières am 13. April 1906 offiziell mit 1100 festgestellt wurde. 309 Leichen wurden geborgen, 791 befanden sich an jenem Tage noch unten in den Schächten. War hier Frankreich der Schauplatz einer gräßlichen Katastrophe, so wurde Italien durch ein schweres Erdbeben in Kalabrien und eine gewaltige Eruption des Vesuvs in Schrecken versetzt. In der Nacht vom 7. auf den 8. September 1905 ward Kalabrien durch ein zweifellos mit dem kurz vorher stattgehabten Ausbruche des Stromboli in Zusammenhang stehendes peri¬ pherisches Erdbeben heimgesucht, welches zu den überhaupt bedeutendsten Erdbebenkatastrophen der letzten Jahrzehnte und zu den schwersten, die speziell Kalabrien seit Jahrhunderten erlebt, zählte, zahlreiche Menschenleben vernichtete und viele Städte und Ortschaften ganz oder zum großen Teile zerstörte. In den meisten von dem Erdbeben heimgesuchten Gegenden mußte die Bevölkerung im Freien kampieren — eine all¬ gemeine Panik herrschte. Das Zentrum des Erd¬ bebens scheint sich in der Provinz Catanzaro befunden zu haben. In den Distrikten Cotrone, Monteleone di Calabria und Nicastro, die zusam¬ men 152 Gemeinden mit 462.000 Einwohnern zählen, nahm das Erdbeben in einzelnen Orten
RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2