42 Zügen im Hause stehen, die ihr mit flehender Gebärde kleine Päckchen Streichhölzchen entgegenhielt. Martha blieb unwillkürlich stehen. Resi sah es nicht und ging weiter. Scharf und prickelnd fegte der Ostwind den Schnee auf und trieb ihn den Menschen wie spitze Nadeln ins Gesicht. Die arme Frau, notdürftig gekleidet, schauerte fröstelnd zusammen, ein hohler Husten erschütterte eben die eingesunkene Brust, zwei ver¬ dächtig aussehende, dunkelrote Flecken zeigten sich auf den eingefallenen Wangen und zugleich die Krankheit an, von der das arme Weib befallen. Und so dünn gekleidet, nichts Warmes um den Hals, nur ein kleines Tüchlein war zum Schutz um die Schultern geschlagen. Sie fror, man sah es, sie zitterte vor Kälte, Martha hatte das mit einem Blick erfaßt, sie kaufte schnell von den Streichhölzchen, da ah sie, wie die kranke Frau bei einem heftigen Windstoß zusammenschauerte ein unendliches Mitleid ergriff sie, und, einer plötzlichen Eingebung folgend, hakte sie ihre Boa los und hing sie der armen Frau um, die sprachlos alles mit sich geschehen ließ. „Morgen hole ich mir hier die Boa wieder ab“, rief Martha im eiligen Fortgehen der Frau noch zu und lief der Schwester nach, die ungeduldig auf sie wartete. Bei dem Gedränge hin und her hatte niemand die kleine Szene bemerkt. „Wo bleibst du nur, Martha?“ rief Resi, „und“ bemerkend, daß die Schwester ohne Boa war, „du hast ja deine Boa verloren.“ Sie war im Be¬ griff, zurückzueilen, um nach der Ver¬ lorenen zu suchen. „Laß Resi, ich habe ie nicht verloren, ich habe sie einer armen Frau gegeben, weil sie so entsetz¬ lich fror und hustete — ich konnte nicht anders,“ setzte sie hinzu, als Resi stehen blieb und sie sprachlos mit entsetzten Augen ansah. „Deine Boa? Deine kost¬ bare Boa, die du zu Weihnachten ge¬ chenkt bekommen hat? Ja, bist du denn von Sinnen?“ „Aber beruhige dich doch nur, ich habe sie doch nicht verschenkt, ich hole sie mir morgen hier bei der Frau wieder ab.“ „Du bist wirklich naiv,“ brauste die Schwester auf, „mit deinem dummen Vertrauen, anders kann man es nicht nennen,“ setzte sie in weg¬ verfendem und geringschätzigem Tone hinzu. „Denkst du wirklich, die Frau vird wiederkommen? Die wird sich hüten und wohlweislich wegbleiben und froh sein, so unverhofft und leicht zu solch ostbarer Boa gekommen zu sein. Martha zuckte die Achseln und war still. „Was wird Mutter sagen?“ sagte Resi. Ja, was wird Mutter sagen, dachte Martha. Ja, Mutter schalt sehr, aber Martha ließ alles ruhig über sich er¬ gehen. Die Mutter hatte ja schließlich auch Recht zu schelten, aber unwillkürlich kam Martha der Gedanke, ob Mutter wohl auch so gescholten haben würde, wenn es ihre Jüngste, ihr Liebling, wenn es Resi gewesen wäre. Nein, tausend¬ mal nein, gescholten hätte sie wohl auch, aber in anderer Art. „Nun lauf ohne 7 Boa, von mir bekommst du keine wieder, schloß die Mutter die Strafpredigt. „Denke nur, dieses dumme Geschöpf gibt ihre Boa weg, um eine Frau vor Kälte zu schützen. Ist so etwas je dagewesen?“ empfing die erregte Frau ihren Mann, als er vom Amt nach Hause kam. Der Vater sah fragend auf seine Aelteste. Martha erzählte ihm alles, wie es ge¬ kommen, und daß sie ja die Boa nicht geschenkt, sondern die Frau nur momen¬ tan vor der entsetzlichen Kälte habe chützen wollen, und daß sie sich morgen ihr Eigentum wieder holen wolle. Der Vater sah ihr liebevoll in die Augen und legte, wie segnend, seine Hand auf den brauen Scheitel: „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barm¬ herzigkeit erlangen.“ Dies das Einzige, was er sagte. Am folgenden Tage entnahm Martha ihrer Kommode einen alten, aber war¬ men Schal, packte ihn sorgfältig zu¬ sammen und ging auf die Hauptstraße, um sich ihre Boa zu holen und dieselbe mit dem Schal zu vertauschen. Ja, sie hatte gut suchen — die Frau war nicht da — der Platz blieb leer, auch als sie später noch einmal denselben Weg ging.
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