armen Kleinen des Gefangenen, sondern um seine eigenen Kinder, die, vor jeder Gefahr sorgsam geschützt, von einer lie¬ benden Mutter behütet, in tiefer Ruhe auf dem Lande in der Nähe einer russischen Kleinstadt lebten. Sein Denken flog davon auf tausend Werst. Alles war verschwunden die Gegenwart existierte nicht mehr, weder die Schlachten, noch die zahllosen Leichen, noch dieser Ozean von Blut, der seit langer Zeit seine Wogen vor den Augen des Kommandanten dahinrollte. Jetzt sah er ein anderes Bild; ein Zimmer von mitt¬ lerer Größe, mit einem Heiligenbild in einer Ecke. Eine Lampe brennt unter dem Bilde, sie schwankt ängstlich hin und her, als fürchte sie sich vor dem beständigen Anblick des strengen Gesichtes der Heiligen, dessen Züge durch den Kontrast mit dem weißen Silberzierrat des Bildes noch düsterer erscheinen. Die schwachen Strah¬ len des blassen Lichtes fallen auf die zwei kleinen Betten mit den weißen Vor¬ hängen, hinter denen man ein gleich¬ mäßiges Atmen hören kann. Der Kom¬ mandant hebt einen der Vorhänge in die Höhe, das kleine Mädchen, das in dem Bettchen liegt, hat die Decke abgeworfen und schlummert, ohne zu träumen, einen süßen Kindesschlaf. ... Lange blickt der Offizier auf die Kleine. „Schlaf, mein Herzchen, schlaf, mein Engel“, murmelt er und macht das Zeichen des Kreuzes über sie. Jetzt tritt er an das andere kleine Bett. Dort ruht ein Knabe. Er ist noch nicht zwei Jahre alt, doch schon jetzt ist er mit Schrammen bedeckt, weil er sich fortwährend prügelt; bald mit seiner kleinen Schwester, bald mit der Katze. Daher zeigt auch seine Wange Spuren, die von den Pfoten der Katze herrühren, die aber jetzt mit ihrem kleinen Feinde Waffenstillstand geschlossen hat, denn sie liegt auf der wollenen Decke und schläft ebenfalls. Der Kommandant betrachtet sinnend den Kleinen. Das Kind merkt seine Gegenwart gar nicht, aber die Katze ist erwacht, öffnet schwerfällig ihre schlum¬ merschweren Augen und streckt behaglich schnurrend ihre Pfoten aus. 29 Auch über dieses Kind macht der Vater das Zeichen des Kreuzes; dann nähert er sich der Nachtlampe und schraubt sie ein wenig höher, wodurch das Zimmer etwas heller wird. In einem Winkel schnarcht die alte Magd, und der Kommandant wendet sich auf den Fußspitzen dem Nebenzimmer zu. Dort schläft sein ältester Sohn. Dieser ist sechs Jahre alt und blickt mit tiefer Verachtung auf seinen Bruder und seine kleine Schwester herab. In Abwesenheit seines Vaters schläft er in dem Bett seiner Mutter, wo er sich wie eine Kugel zusammengerollt hat. Beide werden, von der trägen Flamme einer mit einem blauen Schirm behängten Lampe be¬ leuchtet. Vor dem Bett steht ein kleiner Tisch; die Gattin des Kommandanten hat wohl vor dem Einschlafen noch in den Zeitungen gelesen, denn einzelne Blätter liegen auf diesem kleinen Tisch. An der Wand hängt ein Bild von ihm, andere Photographien stehen auf den Etageren herum. Alles ist hier von ihm erfüllt, man hat seiner nicht vergessen. Von Dankbarkeit bewegt, beugt er sich über die Schlafenden, streichelt sacht und vorsichtig die halb geöffneten Lippen seiner Frau und küßt sie auf die Stirn und die geschlossenen Augen. Er findet sie ein wenig abgemagert. Das ist übri¬ gens natürlich, denn sie grämt und ängstigt sich um ihren Mann. ... Einen Arm hat sie um den Hals ihres Sohnes gelegt, der den Lockenkopf an die in Schulter seiner Mutter gelehnt sanftem Schlummer daliegt. ... Was er für schöne Zähne hat! ... Diese herrliche Ruhe hier! ... Hier atmet alles Liebe, Frieden und Glück, und man könnte glauben, eine Engels¬ schaar schwebe in der warmen Luft dieser beiden Zimmer und schütze diese teuren Wesen vor jedem bösen Gedanken, vor Haß und Verzweiflung. Hätte jemand in diesem Augenblick das Gesicht des schlafenden Offiziers be¬ obachtet, er hätte sehen können, wie ein glückliches Lächeln über die Lippen des langen mageren Mannes huschte; dieses
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