26 finden? Ah bah! Sprechen wir nicht mehr davon! Ich habe getan, was ich für meine Pflicht hielt; tun Sie die Ihre. Man kann dem Tode nicht ent¬ gehen. Was kommen soll, kommt;so steht's geschrieben. Kein Mensch lebt länger, als es ihm das Schicksalbe¬ stimmt. Was ich tat, ich tat es nicht für mich .. Der Gefangene machte eine Geste der Verzweiflung. „Sie haben von Ihrer Familie ge¬ sprochen. Ich habe auch eine Familie“, sagte der Kommandant mit nachdenk¬ licher Miene. „Dann sind Sie sehr glücklich, daß Sie am Leben sind und wieder zu ihr zurückkehren können. Sie sind nicht ge¬ fangen. „Wenn ich Sie frage, so geschieht das nur im Interesse Ihrer Familie ... Sie haben Kinder?“ Der Kopf des Gefangenen neigte sich wieder auf die Brust. Es trat eine Pause ein. „Viele Kinder?“ fuhr der Komman¬ dant fort. „Vier!“ murmelte Mahmud Bey mit leiser Stimme. „Sind sie schon groß?“ „Nein, ganz klein . .. Mein ältestes Mädchen ist kaum sechs Jahre alt ... „Gerade so alt wie mein Junge“, sagte der Kommandant, als spräche erzu sich selbst. „Meine Tochter wird sehr schön sein, wenn sie erst groß ist!“ sagte der Ge¬ fangene, lebhafter werdend. „Sie hat große feurige Augen. Seit fünf Mo¬ naten habe ich sie nicht gesehen; sie weinte, als ich sie verließ. Mein Jüng¬ ster ist erst ein Jahr; als ich fortzog, konnte er noch nicht laufen. Sie wohnen alle in der Umgegend von Adrianopel. Ach, es ist dort so schön ... Ich hoffte, sie unter meinen Augen aufwachsen zu sehen ... Da kam der Krieg! Fluch über die, die ihn heraufbeschworen. Gott ist gerecht, er wird diejenigen strafen, die unser Blut vergossen und das Glück unserer Kinder vernichtet haben! „Ja, wozu ist der Krieg?“ rief der Kommandant. „Wozu nützt er? Was soll aus meiner Familie werden, wennich morgen falle? Das Verhör hatte eine ganz neue Wendung genommen; es war jetzt nur noch eine Unterhaltung, in der marvon Familienangelegenheiten sprach. Der Kommandant übersetzte alles dem Oberst, und dieser nahm an dem Un¬ glück des Gefangenen lebhaft Anteil. „Sagen Sie ihm doch, lieber Freund, daß er, wenn er wirklich so große Liebe zu seinen Kindern empfand, ruhig hätte nach Rußland mitziehen sollen, statt zu entfliehen und dabei sein Leben aufs Spiel zu setzen ... Bei seiner Rückkehr hätte er sich wieder mit ihrer Erziehung „ beschaftigt ... Lange hätte es nicht ge¬ dauert, höchstens einige Monate. „Ach, wenn unsere Frauen und unsere Lieben wüßten,“ fuhr Mahmud Bey in traurigem Tone fort, „was die Russen für Menschen sind, alle würden ruhig zu Hause bleiben, unsere Rückkehr abwarten und sich mit der Wirtschaft und den Kindern beschäftigen. Aber nein! In wenigen Tagen wird die ganze Bevölke¬ rung die Flucht ergreifen, und sobald Ihre Soldaten sich in der Nähe von Adrianopel befinden, wird die ganze Stadt von den Einwohnern verlassen werden. Nur die Christen werden blei¬ ben ... Sie fragten mich eben, fuhr er mit plötzlicher Wärme fort, „warum ich dem großmütigen Offizier, der mich be¬ herbergte, entflohen bin! Ganz einfach, wegen meiner Familie. Ich wollte sie retten, wollte meine Frau und meine Kinder retten. Wissen Sie denn, was aus meiner Familie werden wird? Ich will es Ihnen sagen: Von Furcht er¬ griffen, wird meine Frau zunächst das Haus verlassen, und alles wird einem Griechen oder Armenier als willkom¬ mene Beute in die Hände fallen. Meine Frau wird nach Stambul ziehen und die Kinder mitnehmen. Dort angelangt, wird sie bei der Regierung keine Hilfe finden; denn wo soll diese das Geld auf¬ treiben, um die Bedürfnisse so vieler
RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2