Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1906

102 haften Stämmigkeit seines „Todfeindes“ im Aichet=Schlössel draußen, aber trotz seiner jährlich zunehmenden Rundlichkeit von jener Kraft und Beweglichkeit, wie sie nur stete Arbeit und Mäßigkeit dem Manne zu geben imstande sind, und wie er jetzt so behaglich in dem alten Lehn¬ stuhl vor dem kunstvoll geschnitzten Schreib¬ tisch beim Fenster saß, durch das vom Platze herein das sanfte Licht der Nach¬ mittagssonne gedämpft hereinflutete, das lebhafte Auge sinnend auf eine Glas¬ malerei blickend, die vor ihm lag, und seine beringte Hand den fast weißen, gut¬ gepflegten Vollbart zärtlich streichelte, bot er so recht das Bild eines zwar für¬ sorglichen, aber auch zufriedenen Mannes. Mein Gott, wie sollte er auch nicht zufrieden sein, soweit es auf dieser Welt überhaupt möglich ist das zu sein! Von Haus aus wohlhabend fleißig und tätig veranlagt, ohne viel Bedürfnisse, kunst¬ sinnig im besten Sinne des Wortes und vielleicht hatte er eben den Gedanken, daß er echte, deutsche Kunst im Leben immer gefördert hatte, denn er sah so behaglich jetzt über die Wände des Kontors, wo sie in hübscher, geschmackvoller, nicht auf¬ dringlicher Art aufgehangen waren die Erzeugnisse der Kunst und des Gewerbe¬ fleißes seiner Zeit: die Bilder etlicher Gutbrods, welche mitgeschaffen hatten zum Ruhme des Hauses hier in diesem Raume, Waffen aus aller Herren Länder, aufs sorgsamste gepflegt, Erzeugnisse und Erfindungen von gewerbefleißigen und ge¬ schickten Händen und des erfindungsreichen Geistes Stadt Steyrer Eisen= und Stahl¬ arbeiter so fein und geschmackvoll an den Wänden gruppiert, daß niemand in dem Vorhandensein dieser Schätze eine Protzerei, sondern nur eine Schaustellung ür die Zwecke des Kontors sehen konnte und als eine Geschichte des Arbeitsfleißes und der verständnisvollen Sparsamkeit und Hingabe an den echt nach heimat¬ licher Art gestalteten Gelderwerb des Hauses Gutbrod denken mußte. Diese wohltätige Betrachtung der Er¬ rungenschaften seines Hauses und des tätigen eigenen Lebens unterbrach ein leichtes, fast vertrauliches Klopfen an der Eingangstür, und Herr Wilhelm Gut¬ brod sagte das „Herein“ denn auch im Tone des Verständnisses, des augen¬ blicklichen Erkennens des Klopfers — nicht wie jemand, der sich ärgert, gestört zu werden, sondern wie einer, dem dieses Klopfen eine Erholung bedeutet, weil er weiß, wer jetzt kommt. Und die Tür öffnete sich denn auch leise, wie ehr¬ erbietig, eine kräftige, gebräunte Männer¬ hand wurde sichtbar, welche die Türe für die Eintretenden bei Seite schob, und herein traten zwei Frauen — Damen würde man jetzt verfeinert sagen voraus eine einfach und schlicht, aber ge¬ diegen gekleidete ältere Frau und nach ihr ein Mädchen, groß und schlank, ruhig und gelassen, in Gehaben und Kleidung kein dienstbarer Geist und doch dienstbar und ehrerbietig, eine silberne Tasse in den feinen, weißen Händen, auf der sich ein kleiner, wunderbar gearbeiteter silberner Krug und ein äußerst fein und kunstvoll geschliffener Pokal befanden, nebst Schin¬ kenbrot und mit Sardellenbutter be¬ strichenen Semmeln, und als jetzt beide Frauen mit feinem Knix ein herzliches: „Wohl bekomme es zur Vesper“, ruhig und klar und doch recht herzlich im Tone sagten, erwiderte Herr Wilhelm Gutbrod die Stirne glattstreichend und die Ein¬ tretenden wohlwollend und liebevoll be¬ trachtend, ebenso fein und herzlich im Ton, mit sanfter, fast unmerklich, den Frauen aber in altbekannt familiärer Weise: „Gott dank' es Euch, meine Lieben, grad zur rechten Zeit, bin furchtbar hungrig und durstig —na, was gibt's denn zu vertilgen, nichts mehr vom Wildpret da? Und seine Blicke irrten suchend über die funkelnde Tasse. „Nein, sondern recht einfache Kost“ sagte Frau Ludmilla Gutbrod lächelnd und zwinkerte ihremGatten vielsagend zu, „Herren, die etwas gichtisch veranlagt sind, müssen schon sich mit leichterer Kost begnügen.“ Ihr Gatte machte ein Gesicht, wie wenn er sich nicht sehr schmeichelhaft über

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2