Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1906

68 Aufgabe mit einer Fortsetzung der von Kuro¬ patkin begonnenen Rückzugsbewegung gegen Kirin, respektive Charbin einleiten, unfähig, dem nachdrängenden Feinde Widerstand entgegenzu¬ etzen. Bereits am 19. März besetzten die Japaner das vierzig Kilometer von Tielin entfernte Kai¬ juansian und am 20. März meldete der Tele¬ graph, daß die Reste der retirierenden russischen Armeen um und weit über Gundschulin hinaus, bei Tawa und Kuaidosian von den nachdrängenden Japanern angegriffen worden seien. Am 18. April war die russische Streitmacht auf der Linie Tschantschun—Kirin und südlich in einer Stärke von zirka 200.000 Mann, stets von den Japanern bedroht, konzentriert. Nach den großen Erfolgen bei Mulden und Tielin trat — abgesehen von kleineren, durch das stetige Vorrücken der Japaner bedingten Ge¬ fechten — eine größere Ruhepause in den mili¬ tärischen Hauptaktionen der Japaner am mandschurischen Kriegsschauplatze ein. Sie wurde von diesen zur Vorbereitung neuer, weit aus¬ greifender Pläne, welche einerseits die Zer¬ nierung von Wladiwostok und anderseits die Umfassung der unter Linewitsch stehenden russi¬ schen Armee bezweckten, verwendet. Diese Vor¬ bereitungen waren am Schlusse unserer Be¬ richtsperiode schon so weit gediehen, daß man in Petersburg bereits ernste Besorgnisse wegen der Lage am Kriegsschauplatze zu hegen begann. Es kursierten Gerüchte, daß einerseits die Ver¬ bindung mit Wladiwostok unterbrochen sei und anderseits Linewitsch vor der ernsten Gefahr einer Umzingelung stehe. Jedenfalls zeigten sich in bei¬ den Richtungen die Anfänge einer neuen allge¬ meinen Offensivaktion der Japaner. Während so auf dem mandschurischen Haupt¬ kriegsschauplatze die Russen von einer Niederlage zur anderen eilten und ihr Gesamterfolg auf diesem Boden eigentlich gar nichts weiter als eine konsequente, teilweise panikartige Retirade war, vollzog sich auf der Halbinsel Kwantung das Geschick Port Arthurs. Nachdem durch die Einnahme der die Land¬ enge zwischen den Halbinseln Liaotang und Kwantung beherrschenden Festung Kiutschou die hermetische Einschließung Port Arthurs auch von der Landseite gelungen war, zogen die Japaner, als deren oberster Führer der General Nogi wirkte, in konsequentem Anstürmen den Ring um die dem Untergang geweihte russische Trutzfeste in den ostasiatischen Gewässern immer enger. Wohl so mancher Ansturm der heldenmütigen Be¬ lagerer wurde von der Besatzung der unter dem Kommando des General Stössel stehenden Festung zurückgeschlagen, aber immer wieder folgte Sturm auf Sturm, ein Außenfort um das andere fiel in die Hände der Japaner; dann kamen auch die Innenforts an die Reihe und die tapferste Gegenwehr der Belagerten konnte auf die Länge den mit wahrer Todesverachtung anstürmenden Japanern nicht standhalten; es war vom rein militärischen Standpunkte ein herrliches Schauspiel, dieser Kampf zwischen Be¬ lagerten und Belagerern, vom menschlichen Standpunkt ein entsetzliches Ringen, dem Tau¬ sende und Abertausende zum Opfer fielen. Schon im August 1904 war die Lage Port Arthurs eigentlich verzweifelt, aber der Kom¬ mandant der Feste wollte sich noch nicht ergeben; eine am 16. August1904 von Seite des Generals Nogi an General Stössel gerichtete Aufforde¬ rung, Port Arthur unter günstigen Bedingungen zu übergeben, wurde von Stössel abgelehnt. Und o währte der Kampf in gleicher Heftigkeit fort. Als aber am 30. November 1904, abends 8 Uhr, der den Hafen beherrschende 203 Meter=Hiigel der Schlüssel Port Arthurs — nach wieder¬ holten Sturmangriffen in die Hände der Ja¬ paner fiel, da mußte auch Stössel die Ueber¬ zeugung gewinnen, daß sein stolzes Wort, „daß Port Arthur nicht genommen werden werde“ bald zuschanden werden müßte. Mit der Er¬ stürmung dieses Forts waren 90% der Arbeit zur völligen Besetzung Port Arthurs getan. Wehr¬ los waren die im Hafen der Festung liegenden letzten Reste des einst so mächtigen Port Arthur¬ Geschwaders dem direkten Feuer der auf dem 203 Meter=Hügel von den Japanern rasch in Position gebrachten schweren Belagerungsgeschütze ausgesetzt — eines um das andere wurde schwer verletzt, sank oder wurde auf Grund gesetzt und kampfunfähig gemacht. Schwere, ja gräßliche Leiden hatten die nie zur Ruhe kommenden Be¬ lagerten zu ertragen; bald hier, bald dort stand ein Teil der Stadt in Flammen — die letzte Stunde nahte. Nach der Erstürmung des Forts Erlungschan — einer inneren, permanenten For¬ tifikationsgruppe, dem Eckpfeiler der ganzen Nord¬ front — am 27. Dezember 1904 war auch diese Front der unglücklichen Festung unhaltbar ge¬ worden und man entschloß sich endlich, das Un¬ vermeidlichscheinende zu tun. Am Neujahrstage

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