gräßliche Brief vom Ordinarius abge¬ gangen und er Papa heut beim Mittag vor die Augen muß! Huh! —Er erinnert sich dunkel eines schrecklichen Begebnisses als er einmal ge¬ logen hatte. Er ruft sich all die grausigen Begebenheiten vor die Seele, die er kürz¬ lich in der Zeitung gelesen hat. Halbtot geprügelte, mißhandelte Kinder, die schließlich ihren Eltern fortlaufen oder gar den Tod suchen. Der fürchterliche Moment, wo er mit dem Schulbrief vor seinen Vater treten soll, ist gar nicht auszudenken. Wenn er lieber gar nicht in die Schule ginge und die Sache wenigstens einen Tag hinausschöbe, denkt er mit echter Kinder¬ logik und ist mit einem Satz schon in seinem Zimmer und versteckt die Mappe unter seinem Kopfkissen, damit sie nicht gleich gefunden wird. Nun benutzt er einen unbeobachteten Moment, um zu Hause hinaus auf die Straße zu gelangen. Seine „ E — Frühstuasbüchse hat er vorsorglich umge¬ hängt. Das Wetter ist frisch, aber ange¬ nehm. Der strenge Frost ist wieder ge¬ wichen; die Sonne steht wie ein feurig¬ roter Ball hinter Nebelschleiern. In der Ferne schallt Militärmusik Von den Klängen angelockt, folgt mein Gerhard und marschiert fürbaß in der Richtung, aus der sie kommen, weiter, immer weiter, ohne die Soldaten zu er¬ reichen. Auf der großen Brücke, unter der die Züge hin und her donnern, macht er eine Weile Halt und sieht mit Interesse dem belebten Kommen und Gehen dort zu. Ein Gendarm reitet vorüber und blickt ihn scharf an. Sein böses Gewissen schlägt, und eingeschüchtert macht er sich wieder auf den Weg. Wohin nun? Die immergrünen Kronen des Fichten¬ waldes locken in einiger Ferne. Er besinnt sich, daß er mit Vater und Mutter in einem sehr schönen Wagen mal hier ent¬ lang gefahren, bis sie zu einem Garten¬ lokal kamen, hinter dem ein See lag. In diesem Garten hatte es Schokolade und Kuchen gegeben. 61 Ob er sich das Lokal jetzt mal im De¬ zember anschaut? Er rastet eine Weile, als ihn der Wald aufnimmt, auf einem Baumstamm und zieht sein Gabelfrühstück hervor. Aber wenig und davon nur zeitweise nehmen, haushalten, damit es den ganzen Tag reicht. Er bezwingt mannhaft die lebhafte Eßlust, steckt den Rest wieder ein und tiehlt sich schüchtern durch den Garten an den Rand des Wassers. Was gibt es da alles zu sehen! Segelnde Wolken, die sich spiegeln, flinke Fischlein, die hin= und herschießen, unterseeische, prächtig grüne Vegetation, die wie Haare mit den Well¬ chen auf= und abtaucht, und Röhricht, durch das es bei jedem Windhauch ge¬ heimnisvoll säuselt Gerhard hat Zeit und Ort vergessen in seinem Freiheitsrausch und wird un¬ liebsam aufgeschreckt, als jetzt ein Penn¬ bruder über die Wiesen kommt, der ihn mit unheimlich rollenden Augen anstiert. Angstgetrieben rennt er davon, so schnell . eine kleinen Fuße ihn tragen können. Ge¬ dankenlos, ziellos, vielleicht in der Runde irrend, er weiß nicht, wohin, immer blind und vorwärts, bis er ermattet unter einer Riesentanne zusammenbricht. Der frühe Dezemberabend dunkelt herein. Die Schatten sinken herab, strecken ich, werden gespenstisch größer und größer und jagen ihn empor in Todes¬ angst. Das namenlose Grauen der Waldein¬ samkeit gibt den kleinen ermüdeten Füßen übermenschliche Kraft. Er rast weiter und weiter, bis er an menschliche Wohnungen kommt, wo aus niedrigen Fenstern ein¬ ladender Lichterglanz sein wildhämmern¬ des Herz zur Ruhe bringt. Er schleppt sich bis zu einer offenen Haustür, an die Kellertreppe, und dort auf den harten Ziegelsteinfließen sinkt er in den tiefen Schlaf der Erschöpfung. Wieviel Stunden er da gelegen, er weiß es nicht. Eine Laterne, die ihm grell von einem alten Weibe ins Gesicht gehalten wird, weckt ihn schreckhaft.
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