60 Er hat keinen Blick, kein tröstendes Wort für sie, als sie halbohnmächtig zu¬ sammenknickt. —Er ist fort. Gott sei Dank, die mühselige Suche am Kanal hüben und drüben war fruchtlos. Die Schiffer auf den Kähnen —die Schutzleute — die befragt werden, haben kein umherirrendes Kind den ganzen Vor¬ mittag gesehen. Wenn etwas passiert wäre, etwas, das der unglückliche Vater nicht auszudenken vermag, das ihm das Haar zu Berge und den Angstschweiß auf die Stirne treibt — dann hätten sie es bemerken — etwas davon gesehen oder gehört haben müssen. In seiner eigenen Seelennot hat er noch Gedanken für die gefolterte Mutter und springt zu Hause heran, um sie von diesem Alp zu befreien. Dann gehen die Nachforschungen weiter. — Hinein in die Stadt. Stunden¬ langes Umherwandern, Umherirren, Um¬ hersuchen. Vergeblich! Vergeblich alle Nachfragen auf den Polizeibureaus. Zu Hause sitzen gespenstisch bleiche Ge¬ sichter um den Mittagstisch und unbe¬ rührt werden die Schüsseln wieder abge¬ tragen. Zu Tode erschöpft kommt Helm zuletzt heim. Eine mutlos abwehrende Handbe¬ wegung ist die einzige Antwort auf all die auf ihn eindringenden Fragen. Langsam bricht der Abend herein, sinkt die Nacht herab. Feuchte Nebel brauen über dem Kanal und ziehen im gespensti¬ schen Reigen zu der einsam Wacht halten¬ den Frau hinauf, die mit weit über den Balkonrand gestrecktem Körper in die Nacht hineinspäht. Ihre brennenden Augen suchen das unheimliche Licht zu durchdringen, das die flackernden Gas¬ laternen und die dicke Atmosphäre zu¬ sammenweben. Jedes Geräusch läßt sie auffahren. Ihre Füße tragen sie kaum mehr, aber sie hält Wacht, Wacht, angstvolle Wacht, Stunde auf Stunde, während ihr Mann erschöpft zusammengebrochen ist und Addie, den Kopf auf den Tisch gesunken, erstickt zwischen ihren Händen schluchzt. Ein paar Mal ist das Kind auf Fu߬ spitzen hinausgeschlichen, um den Vater aus dem Halbschlaf nicht aufzuschrecken. Zärtlich tröstend hat sich das warme Kör¬ perchen an die Mutter angeschmiegt, und das herabgefallene Tuch hat das Kind sorgsam um die Mutter gewickelt, die nichts von Kälte spürte in ihrer furcht¬ baren Aufregung. Dann ist Addie, wider¬ strebend, auf das Geheiß der Mutter ins Zimmer zurückgeschlichen. 1, 2, 3, 4, 5, 6 schlägt es dröhnend vom nahen Kirchturm. Ihr graust. Wo mag ihr Liebling sein — wo — wo weilt er, der ihr Stolz — ihre höchste Freude war? Ist er überhaupt noch unter den Lebenden? Mit beiden Händen faßte sie in ihrer Verzweiflung sich ins Haar. Leise knarrt die Balkontür. Dort steht Helm. Er sieht gespenstisch aus in dem fahlen Morgenlicht. „Komm' herein!“ ruft er herrisch. Wie hat ihn diese Nacht verwandelt! Ist das derselbe noch, der für sie nur Worte kosender Liebe hatte? „Komm'!“ ruft er noch barscher. „Das nutzlose Herumstehen hat keinen Sinn. Sorge für Frühstück. Wir werden uns fassen müssen. Ich will mich waschen und dann gleich wieder hinaus. Nachforschun¬ gen müssen ... Da bricht seine Stimme und geht in ein stöhnendes Schluchzen über, das fast wie Geheul klingt. Fassungslos stürmt er davon und riegelt sich im Badezimmer ein. Erika und Addie sinken sich weinend in die Arme, und das verständige Kind wiegt die Mutter unter beruhigendem Zuspruch. * * * Der kleine Missetäter, der all die Sorge und Angst angerichtet, war um die ge¬ wohnte Schulzeit abgezogen. Papa hatte heute so böse Augen ge¬ macht! (In der Tat hatten sie nur besorgt forschend auf dem blassen Gesichtchen ge¬ ruht, als er an seinem Morgenkaffee würgte.) Mit solch schlechtem Gewissen, wie Ger¬ hard es hatte, will das Frühstück nicht gleiten. Wie wird es erst sein, wenn der
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