Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1906

54 Schon dreht sich der Schlüssel im Schloß. Unglücklicher, noch einen Druck, noch einen Schritt über diese Schwelle und deine Seele ist gerettet! ... Warum vermagst du es nicht, diesen Schritt zu tun? Warum jagt es dich wieder rück¬ wärts mit dämonischer Gewalt? Warum muß auch der letzte lichte Strahl deines Bewußtseins versinken in jene tiefe Nacht? Jetzt verkünden vier dumpfe Schläge vom nahen Kirchturm die Zeit; es lassen sich ferne Stimmen vernehmen. Sie kom¬ men näher und der Mann im Mantel, unter dessen Hülle der Leser den unglück¬ lichen Paumgartner nicht mehr erkennt birgt sich jetzt eilig hinter den Tür¬ vorsprung eines Hauses. Sein ganzes Wesen ist fieberhaft gespanntes Horchen. Die Stimmen kommen näher; er unter¬ scheidet sie und bald auch ihre Worte ... es sind Aurora und Theobald, welche vom Bankett kommen. Der alte Gold¬ schmied ist nicht dabei. Theobald hatte dem Schmollen der Geliebten nicht zu widerstehen vermocht, er hatte sie zu dem Feste begleitet, aber es war auch dort geschehen, was er vor¬ ausgefühlt. Die Triumphe der Eitelkeit welche das junge Mädchen an diesem Abend gefeiert, hatten seinen einfach treuen Sinn zu sehr verletzt. Die erzürnte Geliebte nach Hause begleitend, machte er ihr bittere Vorwürfe. Sie schritten langsam dahin, trotzFin¬ sternis und Regenschauern oft still¬ stehend, und gingen endlich an dem Ver¬ borgenen vorüber. Da entfiel den Lippen des unbesonne¬ nen Mädchens ein schwer verletzendes Wort; der Stachel desselben drang tief in Theobalds Seele. Schon wandte er sich, faßte sich aber noch einmal: „Ich begleite dich“ sprach er mit er¬ löschender Stimme, „bis ans Haus ** Dann scheiden wir für immer. In einem Gasthause werde ich einen Aufenthalt für die Nacht finden, wo man mich nicht ver¬ höhnt und verspottet.“ Das trotzige Mädchen erwiderte nichts. An der Tür ihres Hauses trennten sie sich; ohne Gruß, ohne Abschied schritt Theobald eilig die Straße zurück, die er gekommen. Eine Weile lauschte das Mad¬ chen seinen verhallenden Schritten, doch ihr Herz ertrug nicht solches Scheiden und als keine Tritte in der grabesstum¬ men Nacht mehr zu vernehmen waren da rief sie, zurückeilend, ihren Leichtsinn bereuend, laut Theobalds Namen. Jetzt trat der Mann hinter dem Pfei¬ ler rasch hervor; er vertrat dem Mäd¬ chen, das einen halberstickten Schrei aus¬ stieß, den Weg. Jetzt schien sie den Mann zu erkennen der mit krampfhafter Gewalt ihre Arme festhielt. Nur wenige, hastige Worte wechselten beide.. dann folgte ein lauter, gellen¬ der Hilferuf . . . auf diesen Ruf ein dumpfes Stöhnen ... dann Grabesstille. Zu den Füßen des Schrecklichen liegt das erwürgte Mädchen ... Schwere Regentropfen fallen nieder der Himmel ist nachtumschleiert; er hat kein Licht für diese Tat des Entsetzens Einen Augenblick steht der Unselige über den Leichnam gebeugt . .. dann hebt er ihn auf seine Schultern. Nur zehn Schritte sind es bis zur Bodebrücke, man hört von hier das Wasser rauschen. Dorthin nimmt er seinen Lauf .. atemlos langt er mit seiner entsetzlichen Last dort an . . . in einer Sekunde mißt das Verbrechen diesen Raum. Ein dumpf plätschernder Fall ins Wasser . . . das feuchte Grab schließt sich über dem schönen Mädchen. „Was fiel da?“ fragt plötzlich eine Stimme dicht hinter dem Mörder, der sich vernichtet umwendet und in fieber¬ hafter Anspannung seiner Sehnerven in der Finsternis eine Menschengestalt unterscheidet, die, unter das Portal eines Hauses geduckt, sich vor dem strömenden Regen zu bergen scheint. „Was hier fiel? Nichts! Nichts, als einige Mauerstücke, die der Regen vom Brückengeländer abgelöst,“ erwiderte der Mörder und hatte noch den Mut, die Frage hinzuzu¬

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