Eines Morgens betrat ein Fremder von stattlichem Aussehen die Werkstatt des Goldschmiedes. „Habt Ihr“, so fragte der Fremde kurz und barsch, „in Eurem großen Hause wohl einige stille Zimmer zu vermieten, die Ihr mir für guten Mietspreis über¬ lassen wollt? Als der Meister dies bejahte, ersuchte ihn der Fremde, der in seinem Wesen durchaus einem Kavalier glich, ihm die Zimmer zu zeigen. Ueber den Preis wur¬ den sie bald einig und noch am selben Nachmittag bezog der Fremde in Beglei¬ tung eines alten Dieners die von ihm gemieteten Räume. Die neuen Mitbewohner, Herr wie Diener, kamen anfangs wenig zum Vor¬ schein. Ersterer hatte die Miete auf ein halbes Jahr voraus bezahlt und sich da¬ bei die Bedingung gestellt, daß man ihn in seiner Abgeschiedenheit in keiner Weise störe. Der Diener, schweigsam und ernst wie sein Gebieter, gesellte sich nur, wenn die äußerste Notwendigkeit vorhanden war, zu den übrigen Hausgenossen. Der Herr verließ oft eine Woche hindurch das Haus nicht, und dann nur am Abend, gleich, als ob er, Tag und Menschen scheuend, nur gehe, um die der Gesund¬ heit notwendige Luft einzuatmen. Offen¬ bar war Herr Felix Paumgartner, wie ihn der Diener nannte, der Welt, welcher er vielleicht gar zu sehr angehört, in der Blüte des höheren Mannesalters auf einige Zeit entflohen, um in der Einsam¬ keit Kraft zu sammeln, ihre weiteren Prüfungen ertragen zu können. Man hat nie erfahren, ob diese Annahme eine rich¬ tige war; das Geheimnis seiner Ver¬ gangenheit wurde mit ihm begraben. Einige Wochen später, nachdem er in das Haus des Meisters Kettenbeil ein¬ gezogen, wurde dieser bei der Ratsherren¬ wahl einstimmig zum Kämmerer der Stadt ernannt. Nun war Herr Julian Ratsherr, was dem schlichten Mann eine unangenehme Last war. Nicht so seinem hochmütigen Töchterlein; sie war jetzt eines Ratsherrn Tochter und dünktesich 51 dadurch viel mehr. Am meisten hatte Theobald Steiner darunter zu leiden doch er ertrug es still und pflegte desto inniger seine herzensreine Liebe. Oft entscheidet sich das Schicksal des Menschen in einem Tage, einer Stunde, einem Augenblick! So war es hier. Ma¬ gistrat und Bürgerschaft mußten dem neuen Ratsherrn ein großes Bankett auf dem Rathause geben. Am nächsten Sonn¬ tag sollte dies stattfinden. Wie hätte bei diesem Feste das schönste Mädchen Qued¬ linburgs, die schlanke, stolze Aurora fehlen dürfen! Und wie hätte an diesem Tage der Ehre und Freude der zärtliche Vater nicht sein Lieblingskind schmücken sollen mit dem schönsten Gewand und Schmuck, der zu erkaufen war? In den Abendstunden des Mittwochs, welcher dem Tage, an dem das Fest stattfinden sollte, voranging, brachte ein Bursche ein sorgsam verwahrtes Paket ins Haus, das ein seidenes, mit Spitzen besetztes Kleid für Aurora enthielt. Inzwischen hatte der stille Bewohner des Kettenbeilschen Hauses sein abge¬ schlossenes Leben fortgeführt. Niemand beachtend, er selbst nur mit furchtsam verstohlener Neugier betrachtet. Herr Fe¬ lix Paumgartner kannte bis jetzt im Hause nur den Hausherrn, dessen einzige Beziehung dem stolzen Fremden gegen¬ über darin bestand, daß er vor diesem tief sein Käppchen zog, wenn er ihm zu¬ fällig im Hausflur begegnete. Aurora hatte Herr Paumgartner noch nie gesehen. Er sollte sie kennen lernen. Zu spät zu frühl Wunderbares Geschick der Menschen! Ein Sonnenstrahl kann entscheiden über sein Ende, über sein Glück, über seine Seligkeit. Freundlicher Leser, was ist doch das Los des Menschen? Wir wan¬ deln täglich, stündlich unter Gottes er¬ quickender Sonne; wir saugen Millionen ihrer Strahlen ein, und sie erfrischen und beleben unser Dasein. So bringen uns diese unzähligen Sonnenstrahlen unzäh¬ ligen Segen. Und ihm, dem Armen brachte ein einziger Schimmer dieses all¬ beseligenden Lichts ewiges Verderben! 4*
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